Was zuvor oft in Schwulenclubs gespielt wurde, tritt 1974 endgültig aus der Subkultur heraus: Disco als Musikstil stürmt die Charts. Der Sound revolutioniert die Tanzmusik – und prägt sie bis heute.
Glitzerkleid, Spiegelkugel und lässige Hosen mit Schlag – kaum ein Musikgenre hat das Bild der 1970er Jahre mehr geprägt als Disco. Und somit die Erinnerung an ein Jahrzehnt wachgehalten. Doch hinter dem Sound steckt mehr als eingängige Tanzmusik, die noch heute auf der einen oder anderen Oldieparty rauf und runter gespielt wird. Denn desillusioniert vom Scheitern des Hippie-Idealismus entsteht Disco ab Anfang der 1970er Jahre auch aus dem Wunsch heraus, sich endgültig von sexuellen Normen und rassistischen Gesellschaftsbildern zu befreien. Disco war damals mehr als nur Musik.
Was Disco wirklich ausmacht
Der Ursprung findet sich in den Experimenten in New Yorker Underground-Clubs, in denen sich vorwiegend homosexuelle Schwarze und Latinos treffen. „Da ihnen die Möglichkeit verwehrt wurde, ungestört mit anderen Männern zu tanzen, nahmen Schwule die Disco wie eine Droge auf“, schreibt die Kulturwissenschaftlerin Alice Echols.
Disc-Jockeys legen zunächst Motown-, Soul- und Funk-Platten auf, aus denen erste Blüten des neuen Stils entstehen. „Die DJs mischen tanzbare Platten zusammen und passen diese so an, dass der Beat ohne Unterbrechung durchgängig ist“, sagt Musikprofessor David-Emil Wickström von der Popakademie Baden-Württemberg. „Es geht darum, dass man immer weiter tanzen kann.“ DJs und Clubs spielen eine zentrale Rolle. Von der Tanzfläche übers Radio in die Hitparaden: So ist damals das Erfolgsrezept.
Der Sound selbst lässt sich recht leicht umschreiben: ein mittelschneller Rhythmus, elektrische Instrumente und Synthesizer sowie der sogenannte „Four on the Floor“-Beat, der auf jeder Viertelnote im Vier-Vierteltakt liegt. Die Losung heißt: Eingängigkeit!
Schwarze Musiker erobern die Charts
Zunächst machen Songs aus dem Soul-Umfeld auf sich aufmerksam. Anfang 1974 hält sich „The Love I Lost“ von Harold Melvin & the Blue Notes mit seinem charakteristischen Becken-Sound über acht Wochen in den britischen Charts. Zugleich feiern Instrumentalstücke wie „TSOP“ („The Sound of Philadelphia“) von MFSB und „Love’s Theme“ von Love Unlimited Orchestra große Erfolge.
„Das sind sehr schwülstige Soul-Aufnahmen“, erklärt Wickström im Gespräch mit der Deutschen Presse-Agentur. „Die Musiker nehmen den Motown-Sound als Vorlage und machen ihn noch eine Ebene opulenter, noch pompöser, mit noch mehr Streichern und noch mehr Schmalz.“ Dies sei zwar einfach eine Weiterentwicklung des Motown, aber dennoch seien die Songs „die frühen, discoartigen Hits“.
Schnell folgen Tracks, die als erste Meilensteine gelten und den Durchbruch für Disco markieren. Denn sie erklimmen die Hitparaden der wichtigsten Musikmärkte. Gesungen werden sie von schwarzen Musikern. „Rock The Boat“ von The Hues Corporation, „Rock Your Baby“ von George McCrae, „Kung Fu Fighting“ von Carl Douglas oder Gloria Gaynors Cover des Jackson-Five-Songs „Never Can Say Goodbye“: Sie alle erblicken vom Sommer 1974 an das Licht der Öffentlichkeit.
In dieser Zeit werden neben Schaltplatten auch Drum Computer und Synthesizer immer wichtiger. „Never Can Say Goodbye“ gehöre unter anderem zu den ersten Aufnahmen, die gezielt für die Tanzfläche gemischt worden seien: weniger Hall, damit der Sound im Club perfekt wird, sagt Wickström.
Weltweites Disco-Fieber nur von kurzer Dauer
Mit der neuen Technologie schwappt die Welle dann auch nach Europa über – unter anderem nach München. Dort hat sich der Südtiroler Giorgio Moroder sein „Musicland“-Tonstudio eingerichtet und zunächst deutsche Interpreten wie Mary Roos und Michael Holm produziert. 1975 gelingt ihm dann der internationale Durchbruch mit einer 17 Minuten lang stöhnenden Donna Summer: Ihr „Love To Love You Baby“ wird zum Welthit. Ein reiner Synth-Track mit Gesang. Sonst nichts. Moroders „Disco Sound of Munich“ ist heiß begehrt.
Der absolute Mainstream-Höhepunkt kommt dann 1977 mit dem Kino-Blockbuster „Saturday Night Fever“. Mit „Stayin‘ Alive“, „Night Fever“, „Jive Talkin'“ oder „You Should Be Dancing“ liefern die Bee Gees den passenden Soundtrack. „Der Film hat die Musik aus einem schwarzen, Latino-queeren Untergrund herausgeholt und als ganz klar weiß, heteronormativ und italo-amerikanisch platziert“, sagt Wickström.
Einzug hält die Musik in der Bundesrepublik in technisch und räumlich immer aufwändigeren Diskotheken. Auch in der DDR wird die Rolle des sogenannten Schallplattenunterhalters immer wichtiger.
Kein House und Techno ohne Disco
Schnell also bedienen sich weiße Künstler wie die Band Blondie („Heart Of Glass“) oder Rod Steward („Da Ya Think I’m Sexy?“) an dem Stil, genauso aber auch Musiker wie die Village People („Y.M.C.A.“) an der Schnittstelle zwischen schwuler Subkultur und Mainstream. Lange dauert der Hype jedoch nicht: Der Markt ist schnell gesättigt. Schon 1980 ist Disco-Musik nur mehr Schnee von gestern. Zwei der letzten Nummer-Eins-Hits sind im Sommer 1979 „Good Times“ von Chic und Donna Summers „Bad Girls“.
Der queer-schwarze Untergrund wendet sich bald neuen Tanz-Spielarten zu: Chicago House und Detroit Techno. Ohne den „Four on the Floor“-Beat aus der Disco-Ära wären aber auch sie nicht denkbar. Was heute als EDM, also elektronische Tanzmusik, bekannt ist, hat seine Wurzeln in den 1970ern. Auch das Phänomen, DJs als Kultfiguren in den Mittelpunkt zu stellen, stammt aus dieser Zeit.
Disco verschwindet jedoch niemals vollends, sondern taucht in Wellen immer wieder auf. Teils werden Elemente aufgegriffen, wie etwa auf der Madonna-Platte „Confessions On The Dancefloor“ (2005) oder auf Kylie Minogues „Disco“ (2020). Das großartig polierte Album „Random Access Memories“ (2013) von Daft Punk ist nicht nur mit dem Megahit „Get Lucky“ eine Hommage an die 1970er. Der Fingerzeig ist eindeutig: Einer der Tracks darauf heißt „Giorgio by Moroder“.