Ohne Mehrheit tritt an diesem Mittwoch der sächsische CDU-Ministerpräsident Michael Kretschmer zu seiner Wiederwahl an. Das kann extrem schiefgehen.
Dienstag, Punkt 13 Uhr. Der geschäftsführende CDU-Ministerpräsident des Freistaats Sachsen eilt sichtlich missmutig durch einen Flur in der vierten Etage des Landtagsgebäudes. Doch als Michael Kretschmer den Raum A400 erreicht, setzt er ein breites Lächeln auf.
Zu diesem Zeitpunkt sind es keine 24 Stunden mehr, bis er sich wieder zum Regierungschef wählen lassen will. Ohne Mehrheit. Klappt dies nicht, drohen chaotische Verhältnisse. Oder die Neuwahl des Parlaments.
Der Regierungschef federt die kleine Treppe hinauf und betritt den Saal, der wegen der großen Glasscheiben gut einzusehen ist. Er breitet theatralisch seine Arme aus und ruft launig: „Das also ist die BSW-Fraktion!“
Danach werden schnell die Vorhänge zugezogen. Zumindest der Rest des traurigen Schauspiels soll intern bleiben.
Seit der Landtagswahl am 1. September hat Kretschmer schon einiges ertragen müssen. Doch dieser Termin stellt eine ganz spezielle Demütigung dar.
Das mögliche Drama des Michael Kretschmer
Ausgerechnet beim Bündnis Sahra Wagenknecht muss er um Stimmen bitten, also jener Landespartei, die ihn zuvor rüde zurückgewiesen hat. Und er muss sich möglichst freundlich noch einmal ihre Bedingungen anhören: mehr Geld für die Kommunen, keine Kürzungen bei Soziales und Kultur und, ganz wichtig, eine Bundesratsinitiative gegen Waffenlieferungen an die Ukraine.
Der Ministerpräsident kennt die Forderungen. Das BSW war damit schon in die Sondierungsgespräche mit CDU und SPD über eine Mehrheitskoalition gestartet – nur um Anfang November überraschend auszusteigen. Es ging dabei vor allem um die von Wagenknecht ultimativ eingeforderte „Friedensformel“.
Michael Kretschmer Optionen 17.58
Mit dem Exit des BSW war die einzige realistische Mehrheitsoption für Kretschmer futsch. Deshalb will er nun notgedrungen eine Minderheitsregierung mit der SPD zu bilden. Und obwohl er keine verbindlichen Zusagen der anderen Parteien hat, stellt er sich an diesem Mittwoch im Dresdner Landtag der Wahl zum Ministerpräsidenten.
Die geheime Abstimmung soll ab 10 Uhr beginnen. Und sie könnte enden als großes Politdrama, das in seiner Komplexität nur schwer zu verstehen ist. Deshalb soll hier eine Erklärung versucht werden.
Ein Parlament ohne Mehrheiten
Bei der Landtagswahl hatte die bisherige Kenia-Koalition aus CDU, SPD und Grünen ihre Mehrheit verloren. Die Union wurde aber noch einmal knapp stärkste Partei und stellt jetzt 41 Abgeordnete. Die zweitgrößte Fraktion ist die AfD mit 40 Mandaten. Mit einigem Abstand folgen BSW (15 Sitze), SPD (10 Sitze), Grüne (7 Sitze), Linke (6 Sitze) und der Freie-Wähler-Abgeordnete Matthias Berger.
Die CDU kommt also auch gemeinsam mit der SPD nur auf 51 Stimmen. Und bei insgesamt 120 Abgeordneten liegt die absolute Mehrheit bei 61 Stimmen. Fehlen also zehn.
Das Wahlprozedere
Doch diese absolute Mehrheit ist nur im ersten Wahlgang nötig. Ab dem zweiten Wahlgang reicht „die Mehrheit der abgegebenen Stimmen“, also die einfache Mehrheit.
Allerdings wird darüber gestritten, wie abzustimmen ist. Aus Sicht von Landtagspräsident Alexander Dierks (CDU) sind bei mehreren Kandidaten keine Nein-Stimmen möglich. Sein Argument, das er mithilfe eines Rechtsgutachten bekräftigen ließ: Nach den Erfahrungen der Weimarer Republik sei es das Ziel der Landesverfassung, „einer reinen Blockade durch negative Mehrheiten“ entgegenzuwirken.
Die Grünen widersprechen mit einem anderen Rechtsgutachten. Und sie erwägen, vor der Abstimmung die Nein-Option zu beantragen. Kretschmer wäre dann auch mit einfacher Mehrheit nicht gewählt, falls dem Ergebnis ein Mehr an Nein-Stimmen gegenüberstünde
Was das Prozedere besonders unberechenbar macht: Neue Kandidaten können sich bis kurz vor dem ersten Wahlgang melden. Und sie dürfen sogar spontan im zweiten oder einem weiteren Wahlgang antreten.
Die Kandidaten
Bisher haben sich drei Bewerber angekündigt. Auf Vorschlag von CDU und SPD tritt Kretschmer an. Der 49-Jährige ist Landeschef sowie Bundesvize seiner Partei und amtiert seit 2017 als Ministerpräsident. Er will seiner Minderheitsregierung durch ein sogenanntes Konsultationsverfahren Mehrheiten im Landtag verschaffen.
Die AfD hat Jörg Urban als Kandidaten angekündigt: Der 60-Jährige sitzt seit 2014 für die AfD im Landtag, seit 2018 ist er Landesparteichef, er steht auch der Fraktion im Landtag vor. Urban wird dem stramm rechtsextremistischen Lager zugerechnet. Im Fall einer Wahl hätte er keinen Partner. Auch das BSW lehnt eine Zusammenarbeit ab.
Darüber hinaus bewirbt sich Matthias Berger, 56, als neuer Ministerpräsident. Der offiziell parteilose Abgeordnete war über Jahrzehnte Oberbürgermeister von Grimma. Im September trat als Spitzenkandidat der Freien Wähler an und gewann seinen Heimat-Wahlkreis direkt. Berger will im Fall eines Erfolgs eine sogenannte Expertenregierung bilden, in die alle Fraktionen einschließlich der AfD Minister entsenden dürften.
Szenario I: Kretschmer mithilfe der AfD gewählt
Im ersten Wahlgang kann Kretschmer offenbar nicht einmal mit allen Stimmen aus der CDU rechnen. Mindestens fünf Abgeordnete gelten als potenziell abtrünnig. Auch vom BSW und von den Grünen darf er wenig Unterstützung erwarten. Nur aus der Linken gab es bislang positive Signale.
Das heißt: Er ist weit von den nötigen 61 Stimmen entfernt – es sei denn, Urban tritt doch nicht an und die AfD tut das, was sie angeblich nicht tun will: Sie wählt Kretschmer.
Dann gäbe es wohl einen Regierungschef mithilfe von Rechtsextremisten. Nähme Kretschmer das Amt an, ähnelte die Situation nach der Wahl des Thüringer FDP-Ministerpräsidenten Thomas Kemmerich im Winter 2020. Die SPD stünde unter großem Druck, die Koalition zu verlassen – womit alles auf eine CDU-Minderheitsregierung mit Unterstützung der AfD hinausliefe.
Theoretisch ist es ebenso möglich, dass Berger mit den Stimmen von AfD, BSW und einiger CDU-Renegaten gewählt wird. Aber damit rechnet so gut wie niemand in Dresden.
Szenario II: Kretschmer gewinnt dank relativer Mehrheit – oder?
Als deutlich wahrscheinlicher gilt, dass erst im zweiten Wahlgang die Entscheidung fällt. Denn Kretschmer muss dann nur noch mehr Stimmen bekommen als seine Gegenkandidaten.
Doch hier gilt umso mehr: Würden AfD, BSW und einige CDU-Abgeordnete für den Ex-Oberbürgermeister Berger votieren, während sich Grüne und Linke enthielten, könnte er durchaus Kretschmer schlagen.
Dann herrschte in Sachsen politisches Chaos. Und dies wäre noch nicht einmal alles: Die AfD könnte sich den Rechtsstreit um das Abstimmungsverfahren zunutze machen und die Legitimität der Wahl angreifen. Noch während des Wahlvorgangs wäre ein Gang zum Landesverfassungsgericht möglich.
Und dann droht auch noch die Neuwahl
Vielleicht hilft Kretschmer ja am Ende ein spezieller Passus in der Verfassung. Ist bis Anfang Februar, also vier Monate nach der Konstituierung des Landtags, kein neu gewählter Ministerpräsident im Amt, werden automatisch Neuwahlen eingeleitet.
Vor allem Linke und Grüne müssten dann um ihre parlamentarische Existenz fürchten – und könnten deshalb an diesem Mittwoch doch lieber insgeheim für Kretschmer stimmen.