Vertrauensfrage, na und? Auch am Tag seiner größten Niederlage spricht Noch-Kanzler Olaf Scholz von großen Zukunftsplänen. Sein Auftritt hinterlässt vor allem eines: Störgefühle.
Wer heute im Bundestag saß und keine kognitive Dissonanz erlitten hat, spürt im Leben sonst vermutlich auch nicht mehr sehr viel. Kognitive Dissonanzen, so nennen Sozialpsychologen jenes Störgefühl, das sich einstellt, wenn zwei unvereinbare Wahrnehmungen aufeinanderprallen.
Wenn der Ladendieb zur Moralpredigt anhebt. Wenn der Kettenraucher über die Feinstaubbelastung in seiner Straße klagt. Oder wenn Olaf Scholz von kommenden Plänen für seine Kanzlerschaft spricht.
Der Kanzler ohne Wirtschaftswachstum. Der Kanzler, der weder über Haushalt noch eigene Mehrheit verfügt. Der Kanzler, der selbst den Antrag gestellt hat, auf dass man an diesem Dezembermontag im Bundestag zusammenkomme, um ihm das Vertrauen zu entziehen.
Olf Scholz kennt keine Demut
Man muss kein Politikexperte sein, um beim Blick auf die nackten Fakten festzustellen, dass hier nicht alles nach Plan verlaufen ist. Dass krasse Fehler gemacht wurden. Dass hier jemand krachend gescheitert ist. Doch Olaf Scholz kennt keine Demut, er steht am Rednerpult und spricht von Kraft und Zuversicht, von Plänen und von Zukunft. „Wir sind ein Land, das seine besten Tage nicht hinter sich hat, sondern vor sich“, sagt Scholz.
Über seine eigene politische Karriere ließe sich das Gegenteil sagen: Mit dem heutigen Tag ist der Politiker Olaf Scholz sehr wahrscheinlich Geschichte. Seine SPD wird nach Lage der Dinge nicht die Neuwahlen gewinnen. Sie wird sich allenfalls als Juniorpartner in eine Groko retten oder bald die Gelegenheit bekommen, sich in der Opposition zu erneuern. Ohne Scholz.
Liveblog Olaf Scholz stellt Vertrauensfrage
Nach drei Jahren und acht Tagen im Amt wurde heute im Bundestag gewissermaßen legislativ beglaubigt, was spätestens seit dem 6. November, dem Tag des Ampel-Aus, feststand: Olaf Scholz ist als Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland gescheitert.
Gescheitert an den Umständen wie Krisen, Krieg und Verfassungsgericht, ja. Gescheitert an Koalitionspartnern, die stritten, blockierten, sabotierten oder die für eine Regierung „nötige sittliche Reife“ (Scholz über die FDP) nicht aufbrachten.
Olaf Scholz ist vor allem an Olaf Scholz gescheitert
Aber das ist allenfalls die halbe Wahrheit. Olaf Scholz ist vor allem an Olaf Scholz gescheitert. An einem Mann, der allen unentwegt das Gefühl geben muss, alles früher und alles besser gewusst zu haben. Gescheitert an seinem Unvermögen, einen Trialog dreier so unterschiedlicher Parteien zu organisieren. Er hätte zwei Möglichkeiten gehabt: ihn zu moderieren oder ihn anzuführen. „Wer bei mir Führung bestellt …“ – ach, lassen wir das. Und ja, auch das Moderieren setzt ein Mindestmaß an Kooperationswillen voraus, ein Wille, der verschwand, je mehr der Koalition das Geld ausging.
Was das betrifft, könnte es dem mutmaßlich kommenden Kanzler nicht viel besser ergehen. Friedrich Merz hat nach Lage der Umfragen bald eine eigene Mehrheit, aber auch nicht mehr Geld. Es ist der Noch-Kanzler, der mit dem Finger aufs Schlimme, auf die nächste kognitive Dissonanz, hinweist: Es gebe weiterhin wahnsinnig viel zu tun, zu modernisieren, zu investieren in Brücken und Schienen und Panzer. „Wem bürden wir diese Kosten auf?“, fragt Scholz, den Arbeitnehmern, den Familien, den Rentnerinnen?
Das ist eine Aufgabe, an der auch eine kommende Regierung zerbrechen wird, wenn sie nur das Wünschenswerte verspricht, ohne das Notwendige zu tun. Das Wünschenswerte hat die CDU im Wahlprogramm seitenlang formuliert, es summiert sich laut Ökonomen auf 100 Milliarden Euro. Im Jahr. Das Notwendige hat Friedrich Merz bisher nicht ganz so ausführlich dargelegt: Woher soll die Kohle dafür kommen?
Peinliche Szene: Olaf Scholz lässt Saskia Esken links liegen 18:49
Einen zweistelligen Milliardenbetrag will er durch die Abschaffung des Bürgergeldes lockermachen. Weitere Milliarden erwirtschaftet die unter einem Kanzler Merz offenbar zwangsläufig wachsende Wirtschaft. Mit anderen Worten: Es sind Hoffnungswerte. Hoffen darauf, dass die Konjunktur anzieht, dass die Steuereinnahmen steigen, die Sozialausgaben sinken. Hoffen, dass alles irgendwie besser wird.
Für eines müssten die neuen Koalitionäre dagegen ganz allein sorgen: ein Bewusstsein dafür, woran die letzte Regierung gescheitert ist. An der Unfähigkeit, Kompromisse zu schließen, die länger tragen als bis zum Ende eines Koalitionsausschusses. Das ist nicht allein eine Frage politischer Inhalte. Es ist eine Frage der politischen Haltung.
Wie Wähler auf Störgefühle reagieren
Die Sozialpsychologie hat herausgefunden, wie der Mensch auf kognitive Dissonanzen reagiert. Er tut alles, um sie zu reduzieren. Kleinere Dissonanzen lassen sich verdrängen, bis zu einem gewissen Grad auch vermeiden, durch aktives Weghören. Im stärksten Fall erwächst aus dem Störgefühl die Motivation, sein bisheriges Verhalten zu ändern.
Alle Wahlkämpfer, die sich nun Hoffnung auf Wechselwähler machen, seien gewarnt: Die Menschen könnten sich vor lauter Störgefühlen auch ganz aus dem demokratischen Prozess verabschieden.