Die Zahl der Firmeninsolvenzen steigt, das ist eine schlechte Nachricht. Ein genauerer Blick in die Daten zeigt, wie dramatisch die Lage wirklich ist.
Die Regierung zerbrochen, die Konjunktur am Boden, die Autoindustrie in schwerer Bedrängnis. Die Stimmung am Wirtschaftsstandort Deutschland war schon mal besser. Für zusätzliche Panik sorgt seit einiger Zeit die steigende Zahl der Firmenpleiten. Der Begriff „Pleitewelle“ geht um.
Die Wirtschaftsauskunftei Creditreform rechnet für 2024 mit dem höchsten Wert an Insolvenzen seit neun Jahren und weiter steigenden Zahlen im kommenden Jahr. Die Ökonomen des Instituts für Wirtschaftsforschung Halle sprachen jüngst in einer Studie vom „perfekten Sturm“ angesichts der höchsten Insolvenzzahlen in einem Oktober seit 20 Jahren. An Katastrophenvokabeln mangelt es also nicht, aber wie schlimm ist die Lage wirklich?
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Tatsächlich sehen die Insolvenzzahlen des Statistischen Bundesamtes auf den ersten Blick dramatisch aus. Demnach haben im Oktober 23 Prozent mehr Unternehmen Regelinsolvenz beantragt als im Oktober des Vorjahres. Bereits seit Juni 2023 verzeichnen die Statistiker fast durchgängig steigende Zuwachsraten im zweistelligen Bereich. Unterm Strich standen im vergangenen Jahr 17.800 Firmenpleiten. Für 2024 erwartet Creditreform insgesamt rund 22.400 Insolvenzen – also rund ein Viertel mehr als im Vorjahr.
Das ist nicht schön, es ist aber – historisch gesehen – auch nicht völlig ungewöhnlich, wie ein Blick in die Langzeitdaten zeigt. So lag die Zahl der Insolvenzen rund um die Jahrtausendwende über viele Jahre deutlich höher, wie etwa der Journalist Jan Schwochow kürzlich in einem viel beachteten Post auf LinkedIn ausführte. In den von Finanzkrisen geprägten Jahren 2001 bis 2011 verzeichnete das Statistische Bundesamt fast durchgängig mehr als 30.000 Unternehmensinsolvenzen jährlich (siehe Grafik). 2003 und 2004 waren es sogar jeweils mehr als 39.000. In der Corona-Pandemie dagegen waren die Zahlen – auch aufgrund einer vorübergehenden Aussetzung der Insolvenzantragspflicht – auf ein sehr niedriges Niveau gefallen, sodass manche Pleiten lediglich aufgeschoben wurden.
Insolvenzwelle, oder nicht?
Angesichts dessen findet manch Experte, den Begriff Pleitewelle für die aktuelle Situation unangemessen. „Das ist keine Welle, nicht einmal Hochwasser“, zitierte die Wirtschaftswoche kürzlich Christoph Niering, den Vorsitzenden des Insolvenzverwalterverbandes VID. Er sieht lediglich eine „gefühlte Insolvenzwelle“, diese sei spürbar, aber eben nicht unerwartet oder dramatisch.
Die Lage könnte sich aber schon bald weiter verschlechtern. „Mit einiger Verzögerung schlagen die Krisen der vergangenen Jahre nun als Insolvenzen bei den Unternehmen durch“, sagt Patrik-Ludwig Hantzsch, Leiter der Wirtschaftsforschung bei Creditreform. „Der wirtschaftspolitische Stillstand und die rückläufige Innovationskraft haben den Wirtschaftsstandort Deutschland geschwächt. Daher rechnen wir in 2025 mit einem weiteren Anstieg der Fälle.“ Werte wie 2009 und 2010, als rund 32.000 Firmen pro Jahr insolvent gingen, könnten schon bald wieder in Sichtweite kommen, warnt Hantzsch.
Die Zahl der Insolvenzen allein ist allerdings nur bedingt aussagekräftig. Schließlich entstehen jedes Jahr auch Tausende neue Firmen, andere stellen den Betrieb ohne Insolvenz ein – während viele insolvente Firmen nach erfolgreicher Umstrukturierung weitermachen können. Für 2023 verzeichnet das Statistische Bundesamt 118.000 Betriebsgründungen und 97.000 Betriebsaufgaben mit größerer wirtschaftlicher Bedeutung. In den vergangenen 20 Jahren war die Zahl der relevanten Gründungen laut der amtlichen Statistik stets höher als die der Betriebsschließungen.
Sorge vor Großinsolvenzen
Wie schwer eine Insolvenzwelle die Volkswirtschaft trifft, hängt zudem maßgeblich davon ab, wie viele große Firmen betroffen sind. Eine Karstadt-Pleite ist etwas anderes als das Aus eines Kleinbetriebes mit einer Handvoll Mitarbeiter. Zahlenmäßig dominiert wird die Statistik auch in diesem Jahr von Firmen mit höchstens zehn Beschäftigten – auf sie entfallen laut Creditreform mehr als 80 Prozent der Firmenpleiten. Auffällig sei daneben aber der überdurchschnittlich starke Anstieg an Großinsolvenzen. Prominente Fälle sind neben der erneuten Insolvenz von Galeria Karstadt Kaufhof auch die Pleiten von FTI Touristik oder Esprit. Insgesamt sind laut Creditreform in diesem Jahr durch Unternehmensinsolvenzen 320.000 Arbeitsplätze bedroht oder weggefallen. Ein deutlicher Anstieg gegenüber dem Vorjahr als 205.000 Arbeitsplätze betroffen waren.
Die Entwicklung der Großinsolvenzen in Deutschland beobachten auch andere Experten mit Sorge. Sie sei derzeit „stabil auf hohem Niveau“, schreibt die Restrukturierungsberatung Falkensteg in ihrem jüngsten Insolvenzreport. So mussten im dritten Quartal 45 Unternehmen mit mehr als 20 Millionen Euro Umsatz Insolvenz anmelden. Das waren drei weniger als im Vorjahreszeitraum, aber deutlich mehr als im Durchschnitt der letzten fünf Jahre, in denen pro Quartal nur 35 Großinsolvenzen gezählt wurden. Ob man die Insolvenzlage nun als Welle bezeichnet oder nicht – gefährliche Strömungen sind jedenfalls da.
Der Artikel erschien erstmals am 5. Dezember und wurde am 16. Dezember mit den aktuellen Creditreform-Zahlen aktualisiert