Vier Jahre lang war es in Syrien relativ ruhig. Nun flammt der Bürgerkrieg durch eine überraschende Großoffensive der Rebellen wieder auf. Im Visier der Angreifer: Aleppo.

Im Nordwesten Syriens sind Dschihadisten bei den schwersten Kämpfen seit Jahren laut Aktivisten und Augenzeugen in die Großstadt Aleppo eingedrungen. Die Gruppe Hajat Tahrir al-Scham (HTS) und ihre Verbündeten „kontrollieren fünf Stadtteile der Stadt Aleppo“, sagte der Leiter der Syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte, Rami Abdel Rahman, am Freitag. Anwohner berichteten von bewaffneten Kämpfern in den Straßen. Die syrische Regierung erklärte hingegen, die Armee habe die „Großoffensive“ abgewehrt.

Die Dschihadisten und ihre von der Türkei unterstützten Verbündeten seien „ohne nennenswerten Widerstand“ der syrischen Armee vorgerückt, sagte Rahman weiter. Demnach erreichten die Kämpfer die Tore der Stadt, „nachdem sie zwei Selbstmordanschläge mit Autobomben verübt hatten“.PAID Syrien Rebellenoffensive Interview Fabian 13.20

Die syrische Regierung teilte dagegen mit, die Armee habe die „Großoffensive bewaffneter Terrorgruppen“ auf Aleppo abgewehrt und mehrere Stellungen zurückerobert. Die Armee entsandte Verstärkung in die zweitgrößte Stadt Syriens, in deren Umkreis es Regierungsangaben zufolge bereits zuvor zu „heftigen Kämpfen und Zusammenstößen“ gekommen war. Laut syrischen Medien wurde Aleppo auch erstmals seit vier Jahren bombardiert. Vier Zivilisten wurden demnach getötet.

„Zum ersten Mal seit fast fünf Jahren hören wir ständig Raketen und Artilleriegranaten, manchmal auch Flugzeuge“, sagte ein 51-jähriger Bewohner von Aleppo am Telefon. Die Menschen hätten Angst, „dass sich das Kriegsszenario wiederholt und wir gezwungen sein werden, aus unserer Heimat zu fliehen“. Zwei Anwohner berichteten von Kämpfern auf der Straße und Panik.

Bürgerkrieg in Syrien erreicht erneut ein besonders blutige Phase

Die Syrische Beobachtungsstelle erklärte, die Dschihadisten hätten innerhalb der vergangenen Tage bereits „mehr als 50 Dörfer und Städte“ in den Regionen Aleppo und Idlib im Norden und Nordwesten des Landes unter ihre Kontrolle gebracht.

Im Nordwesten Syriens grenzt die großteils von der Regierung kontrollierte Provinz Aleppo an die letzte große Rebellen- und Dschihadisten-Hochburg Idlib. Die Dschihadistengruppe HTS ist ein syrischer Ableger des Terrornetzwerks Al-Qaida und kontrolliert große Teile von Idlib, aber auch angrenzende Gebiete in den Regionen Aleppo, Hama und Latakia.Minen Finnland 17.55

Am Mittwoch hatten die Dschihadisten und ihre Verbündeten eine überraschende Großoffensive gegen die Streitkräfte der Regierung gestartet – es sind die heftigsten Kämpfe seit dem Jahr 2020. Nach Angaben der Beobachtungsstelle wurden dabei bis Freitag 255 Menschen getötet, ein Großteil von ihnen Kämpfer auf beiden Seiten, aber auch Zivilisten.

Die Beobachtungsstelle mit Sitz in Großbritannien bezieht ihre Informationen aus einem Netzwerk verschiedener Quellen in Syrien. Ihre Angaben sind von unabhängiger Seite kaum zu überprüfen.

Russland und Türkei vermittelten Waffenstillstand

Der syrische Bürgerkrieg hatte 2011 begonnen, nachdem Präsident Baschar al-Assad Proteste gegen die Regierung mit Gewalt niederschlagen ließ. Eine halbe Million Menschen wurden getötet und weitere Millionen vertrieben.

Mit der Unterstützung ihrer Verbündeten Russland und dem Iran erlangte die syrische Regierung 2015 die Kontrolle über weite Teile des Landes zurück. Auch die Großstadt Aleppo eroberte Assad im Jahr 2016 mit Unterstützung der russischen Luftwaffe und unter Einsatz massiver Bombenangriffe zurück.STERN C Rubelkrise 18.45

Kreml-Sprecher Dmitri Peskow verurteilte die Offensive der Dschihadisten als „Angriff auf die Souveränität Syriens“. Zudem bot er der syrischen Regierung die Unterstützung Russlands an. Auch Irans Außenminister Abbas Araghtschi betonte während eines Telefonats mit seinem syrischen Kollegen Bassam al-Sabbagh „die anhaltende Unterstützung Irans für die syrische Regierung, Nation und Armee im Kampf gegen den Terrorismus“.

Im Norden Syriens gilt seit 2020 ein von der Türkei und Russland vermittelter Waffenstillstand, der zwar immer wieder gebrochen wurde, aber die Region in den vergangenen Jahren weitgehend beruhigt hatte. Laut der Syrischen Beobachtungsstelle flogen die syrische und die russische Luftwaffe am Freitag gemeinsam „23 Luftangriffe“ auf die als Dschihadistenhochburg geltende Region Idlib.

Die Türkei forderte ein Ende dieser Angriffe. Das Außenministerium erklärte im Onlinedienst X, diese hätten zu einer „unerwünschten Eskalation der Spannungen“ in der Grenzregion geführt.