Stellen Sie sich vor, Ihre Lieblingsband leistet sich einen Fehltritt – einen zu schwerwiegenden, als dass Sie sie einfach weiterhören könnten. Unserer Autorin ist das passiert.

Was mache ich jetzt mit der Schallplatte? Diese Frage beschäftigt mich seit einer Woche. Anhören kann ich sie nicht mehr. Sie zu verkaufen, fühlt sich falsch an, ich will keinen Profit daraus schlagen und ich will auch nicht, dass jemand anderes sie anhört. Wegwerfen fühlt sich auch seltsam an, irgendwie.  

Bei der Platte handelt es sich um „Golden Hour“, das Debütalbum der deutschen Indie-Band Jeremias, meiner früheren Lieblingsgruppe, die ich jetzt nicht mehr hören kann. Denn die Musikerhaben trotz Vorwürfen des Machtmissbrauchs gegen einen befreundeten Fotografen wieder mit ihm zusammengearbeitet. Und wer mit mutmaßlichen Tätern gemeinsame Sache macht, sie schützt und Betroffene somit übergeht, hat in meinem Leben nichts zu suchen.

Der Fotograf war im August dieses Jahres beschuldigt worden, Fans persönlich oder via Social Media kontaktiert und ihnen Chancen auf Jobs und Nähe zur Band versprochen zu haben. Sie sollen auf die Gästeliste gesetzt und teils in den Backstagebereich gelassen worden sein. Laut Instagram-Posts der Fangruppierung @hoert.betroffene soll es in der Folge zu „einvernehmlichen Intimitäten“ gekommen sein. Als die Vorwürfe im Sommer bekannt wurden, beendeten die Musiker die Zusammenarbeit mit dem Fotografen zunächst. Dann beauftragten sie ihn jedoch erneut, diesmal mit der Produktion des Videos zu ihrer neuen Single „Sag mir, was ich nicht weiß“. Trotz der Vorwürfe.PAID Jeremias Vorwurf 20.29

Einen Tag nach der Veröffentlichung des Musikvideos postete Jeremias ein offenbar spontanes und unmögliches Statement auf Instagram. Darin schrieben die Bandmitglieder, dass sie sich der Vorwürfe bewusst seien, ihnen aber auch eine „gesunde Fehler- und Kritikkultur“ wichtig sei, vor allem wenn die beschuldigte Person aus ihrem nahen Umfeld stamme. Deshalb hätten sie dem Fotografen eine neue Chance gegeben.

Nach dem Fehltritt entfolgte ich Jeremias

Nach dem Lesen der Stellungnahme handelte ich wie auf Autopilot. Ich hörte die drei Songs, mit denen ich am meisten verbinde, noch ein allerletztes Mal, dann entfolgte ich der Band auf Instagram und blockierte sie auf Spotify: „Ok, wir spielen diese:n Künstler:in nicht mehr“, meldete die App.

So schnell kann’s gehen. Und ehrlich gesagt verstehe ich nicht, warum Fans anderer Bands sich partout weigern, ebenso zu handeln. Ja, es ist schade und keine rein rationale Entscheidung, sondern vor allem eine emotionale Loskopplung – aber was würde ich selbst mir wünschen, wenn ich oder eine Freundin von solch einer Übergriffigkeit betroffen wäre? Die Musikbranche hat schließlich genügend andere, unproblematische Künstler und Künstlerinnen zu bieten.

Ein paar Tage nach dem ersten veröffentlichte Jeremias ein zweites Statement. Dieses war deutlich professioneller und in Zusammenarbeit mit der Betroffenengruppe erarbeitet worden. Die Band gestand den Fehler ein, gab an, die Zusammenarbeit mit dem Beschuldigten nun endgültig zu beenden, legt den Aufarbeitungsprozess dar und entschuldigten sich. Aber für mich war es da schon zu spät.

STERN PAID Taylor Swift17.22

Dabei hatte alles so schön angefangen. Ich habe Jeremias Anfang 2020 entdeckt und mich sofort in die Musik verliebt. Ich war 20 Jahre alt und gerade in eine andere Stadt gezogen, um zu studieren. Ich wusste überhaupt nicht, wer ich bin oder was ich vom Leben will. Ich hatte viel Heimweh, habe mich ständig neu verknallt, mich auf die falschen Typen eingelassen, die Pandemie begann und alles stand kopf. Die ganze Zeit hörte ich Jeremias. In Dauerschleife. Für all meine Erfahrungen und Gefühle fand ich das passende Lied, fühlte mich verstanden. Immer wenn ein neuer Song erschien, und 2021 dann das Debütalbum, spürte ich ein Kribbeln in mir. Endorphine.

Als die Pandemie ein wenig abflachte und man wieder auf Konzerte gehen konnte, fuhr ich von Trier nach Berlin, um die Band live zu sehen. Auf dieses Konzert folgten drei weitere. Es waren gute Abende, gute Erinnerungen. Aber jetzt kann ich diese Musik nicht mehr ertragen. Und ja, die Musiker haben sich zwar entschuldigt und erklärt, wie sie den Fehler aufarbeiten wollen, aber manche Fehler sollte man gar nicht erst begehen, besonders wenn sie so tief blicken lassen.

Trotzdem tut es weh. Es fühlt sich komisch an. Weil das, was ich mit der Musik verbinde, ja nicht einfach verschwindet. Immerhin habe ich die letzten fünf Jahre mit den Texten verbracht, kann sie alle auswendig. Aber wie könnte ich jemandem zuhören, der Zeilen singt wie „Von den Dingen, die man nicht macht, hab ich viel zu viel geschafft, Baby, sorry, jeden Move würde ich leider wieder tun“, und mich nicht dabei fragen: „Täter schützen und Betroffene nicht ernst nehmen, oder was?“ Dafür habe ich viel zu viel Wut und Verachtung in mir.

Es fühlt sich an wie Schlussmachen

Die Frage, ob man das Werk vom Künstler trennen kann, ist uralt und riesengroß. Ich habe da eine ganz klare Antwort: Kann man nicht. Sollte man nicht! Jeder Klick ist einer zu viel. Keine Bühne für Täter. Da gibt es nichts zu diskutieren. Punkt. Es geht dabei nicht nur um Kunst, sondern auch um Verantwortung den Betroffenen gegenüber und um persönliche Integrität.

Wir gehen immer eine parasoziale Beziehung ein mit Musikern und Musikerinnen, deren Fan wir sind. Wir warten darauf, wann endlich wieder die nächste Single, das nächste Album herauskommt, jubeln, wenn sie die Bühne betreten und kaufen Pullover mit ihrem Namen darauf. Wir sind Fan der Personen oder Bands, weil sie das erschaffen, was uns bewegt, berührt, womit wir uns identifizieren können. Und wenn sie das nicht mehr tun, dann geht es eben nicht weiter. Das ist ein bisschen wie Schlussmachen. Man trennt sich nicht immer, weil die Gefühle nicht mehr da sind, sondern oft, weil das Gegenüber etwas getan hat, das mit den eigenen Werten nicht vereinbar ist.

Und was mache ich jetzt mit der Schallplatte? Ehrlich gesagt weiß ich es schlicht und einfach nicht. Fürs Erste werde ich sie wohl ganz hinten im Regal verstauben lassen, vergessen. Und beim nächsten Umzug sortiere ich sie dann aus.