Der Kanzler leitet früher die Neuwahl ein, auf die Union und Friedrich Merz wächst der Druck, wichtigen Gesetzen noch schnell zuzustimmen. Es geht um eine gigantische Zahl.

 

Friedrich Merz gab sich hart: Bis der SPD-Kanzler die Vertrauensfrage gestellt habe, wolle er nicht über Ampel-Gesetze im Bundestag beraten. Das sagte der CDU-Vorsitzende immer wieder. Doch nun, da Olaf Scholz eingelenkt hat und das Neuwahl-Verfahren am 16. Dezember einleiten will, gibt es für den Oppositionsführer keine Ausrede mehr.

Unter den 113 derzeit noch offenen Gesetzen sind viele, die er nicht aus Parteitaktik blockieren sollte. Denn kommen manche der ausstehenden Gesetze nicht, stünde Merz vor einem Aufstand in den eigenen Reihen. Auch FDP-Chef Christian Lindner droht sich noch einmal selbst zu beschädigen.

Die Zahl ist auch für den emsigen Berliner Politikbetrieb gigantisch: Insgesamt 113 Gesetzesvorhaben stecken nach dem Abschalten der Ampel-Gelbphase im politischen Niemandsland fest. Denn wenn der Bundestag aufgelöst wird, greift das „Diskontinuitätsprinzip“: Was nicht verabschiedet ist, fällt automatisch komplett weg und müsste ganz neu gestartet werden. Merz Titelgespräch Heft 0200

Einige der ausstehenden Gesetzentwürfe haben definitiv keine Chance mehr. Die Rentenreform etwa will Olaf Scholz nicht mehr im Bundestag, sondern bei der Bundestagswahl zur Abstimmung bringen. Auch die Kindergrundsicherung, das einzige sozialpolitische Projekt der Grünen, ist bereits abgeschrieben. Dasselbe gilt für das sogenannte Demokratiefördergesetz. Und: Weil zugleich der Bundeshaushalt für das Jahr 2025 nicht mehr verabschiedet wird, fehlt für einige Vorhaben auch die notwendige gesetzliche Grundlage, um überhaupt Geld für geplante Dinge ausgeben zu dürfen. 

Doch in dem Vorhabenberg stecken auch viele Gesetze, die auch die Ministerpräsidenten der Union eigentlich gerne hätten. Und einige, welche die FDP selbst noch kurz vor Schluss vorangetrieben hat. Dazu kommen solche, die Deutschland aufgrund von EU-Vorgaben umsetzen muss. Sonst drohen EU-Strafzahlungen. 

Einkommensteuer: Mehr Netto vom Brutto

Vor allem beim Jahressteuergesetz 2025 steckt Merz in der Zwickmühle. Denn damit wird unter anderem der Einkommensteuertarif „nach rechts verschoben“. Das heißt: Der Grundfreibetrag wird mit dem Gesetz erhöht, dadurch zahlen alle etwas weniger Steuern, als wenn der Tarif gleich bliebe. 

Bleibt das aus, müssen die Bürgerinnen und Bürger von ihren Lohnsteigerungen 2025 mehr an die Staatskasse abgeben. Notfalls, hat der FDP-Parteivorsitzende Christian Lindner signalisiert, könnte die FDP im Bundestag dieses Gesetz doch noch über die Ziellinie retten. Aber Merz müsste sich fragen lassen, ob das sein Verständnis von verantwortungsvoller Politik ist.

Damit das Licht nicht ausgeht: Habecks Kraftwerksstrategie

Deutschland soll mittelfristig nahezu komplett auf CO₂-freundliche Kraftwerke mit erneuerbarer Energie gehen – das hatte sich die Ampel und vor allem Wirtschaftsminister Robert Habeck auf die Fahne geschrieben. Auf dem Weg dahin müssen vor allem die Klimakiller-Kohlekraftwerke weg. Doch um auch in der Dunkelflaute Strom erzeugen zu können, braucht es andere Kraftwerke: Gaskraftwerke. Die sind schnell an- und abschaltbar und sollen später mit Wasserstoff laufen. 

Doch der Bau braucht Jahre – weshalb das Kraftwerksicherheitsgesetz so zentral ist, mit dem der Bau festgelegt werden soll. Gerade die südlichen Bundesländer und deren Ministerpräsidenten wollen schnell Planungssicherheit – während Friedrich Merz weiter an eine Wiederbelebung der Atomkraftwerke glaubt. Dass das nichts wird, haben ihm Industrievertreter längst bescheinigt. 

Scholz lehnt Vertrauensfrage schon am Mittwoch ab 16:03

Aber ohne das Kraftwerksicherheitsgesetz werden die Dutzende nötigen „Wasserstoff-ready“-Gaskraftwerke wohl vor allem eines: nicht gebaut. Die aber sollen teilweise von den Stadtwerken gebaut werden – und hinter denen stehen auch Kommunen, in denen CDU- und CSU-Politiker das Sagen haben. Hier zu blockieren wäre für Friedrich Merz ein internes Problem.

Digitalpakt 2.0: Kein Geld für digitale Bildung

Der Digitalpakt sollte Schülerinnen und Schüler und Schulen fit für das digitale Zeitalter machen. Das Geld ist alle, nun sollte eine Folgeregelung her. Landauf, landab droht, dass die Rechner und Tablets kaputtgehen und kein Ersatz beschafft werden kann. Denn die Kommunen, eigentlich dafür zuständig, haben dafür oft kein Geld. 

Deshalb sollte eine Neuauflage des Digitalpakts her. Doch die Verhandlungen zwischen der damaligen Bundesbildungsministerin Bettina Stark-Watzinger (FDP) und den Ländern kamen nur mühsam voran – die Reste der fünf Milliarden Euro des ersten Pakts verfallen Ende 2024, wenn keine Anschlusslösung gefunden wird. 

Ein breites Bündnis fordert: Der Interims-Bildungsminister Cem Özdemir (Grüne) und die Landesminister müssten sofort eine Lösung finden. Doch die Zeit dafür ist wirklich knapp – wahrscheinlich zu knapp. Praktisch: Hier kann die Union die Schuld der FDP anheften, deren Bildungsministerin in der Ampelregierung über Jahre keine Lösung fand.

Sicherheit: Die Gretchenfrage für die Union

Ein großes Problem für die Bundeswehr ist die fehlende Planungssicherheit durch den fehlenden Haushalt 2025. Statt weiter Aufrüsten heißt es nun: Stillstehen. Zumindest, wenn das Geld nicht aus dem Sondervermögen kommt. Nicht gerade das, was die Bundeswehr in diesen Zeiten braucht – aber im Warten auf bessere Zeiten ist die Truppe geübt. 

An einem anderen Punkt aber ist Warten richtig problematisch. Denn die dauerhafte Stationierung einer Brigade Bundeswehrsoldaten in Litauen soll kommen – das will auch die Union. Die Soldaten sollen freiwillig dorthin gehen – unter anderem dank einer Zulage für den Auslandseinsatz, Trennungsgeld und anderen Anreizen. Doch das „Gesetz zur weiteren Stärkung der personellen Einsatzbereitschaft und zur Änderung von Vorschriften für die Bundeswehr“ dafür hat nicht einmal die erste Lesung im Bundestag hinter sich. Kann die Union es sich leisten, hier pauschal nein zu sagen? Oder stellt sich die FDP doch noch einmal hinter das Gesetz? Finanziell ist es überschaubar: 2025 geht es um 40 Millionen Euro. Kommt es aber nicht, wissen die Soldaten genau, bei wem sie sich dafür bedanken dürfen.

Landwirtschaft: Um die Höfe ist es schlecht bestellt

Dieses Vorhaben wirkt klein, ist aber wirklich eilbedürftig – und betrifft eine Kernklientel der Union: Wird ein Hof vererbt, muss oft zwischen mehreren Erben aufgeteilt werden: Einer bekommt den Hof, die anderen einen Wertanteil. Bislang wurde dieser Wert über die alte Grundsteuer ermittelt. 

Aber die hatte das Bundesverfassungsgericht 2018 für verfassungswidrig erklärt. Hier droht nun eine Regelungslücke: Ab Januar 2025 muss, wenn das Gesetz nicht kommt, der genaue Wert ausgerechnet werden – das sollte eigentlich verhindert werden. Wie Friedrich Merz das den traditionell in der Union starken Bauern erklären will? Unklar.

Asylpolitik: Umsetzung der EU-Gesetze fällt aus

Im November 2023 wurde die gemeinsame neue Asylpolitik der EU beschlossen – und zwei wichtige Gesetze zur Umsetzung in Deutschland stecken fest. Mit denen wollte die Bundesregierung die neuen Regeln möglichst schnell anwenden können und startklar werden. Die Union will diese zwar ebenfalls umsetzen. STERN PAID Linder NEU Heft 23.20

Allerdings würden zumindest Teile der Union zusätzlich gerne weitere Schritte ergreifen, um einen Asylantrag in Deutschland möglichst unattraktiv zu machen – bis hin zur im Sommer von Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer ins Spiel gebrachten Abschaffung des Asylartikels im Grundgesetz. Verweigert die Union aber die Umsetzung der gemeinsamen Asyl-Regelungen in deutsches Recht oder verschiebt sie, muss sie erklären, was genau sie stattdessen will – und das ist auch innerhalb der Union keineswegs unumstritten.

Anti-AfD-Blockade-Gesetz: Das kommt ziemlich sicher noch

Gar nicht zu erklären wäre für Union und FDP ein anderes, wichtiges Vorhaben: In einem gemeinsamen Antrag mit der Ampelkoalition hatten CDU und CSU Ende September Änderungen an zwei Grundgesetzartikeln und am Gesetz über das Bundesverfassungsgericht auf den Weg gebracht. 

Das ausdrückliche Ziel: Sollte die AfD oder eine andere Partei bei der Wahl der Richter für das Bundesverfassungsgericht eine Blockadehaltung einnehmen, soll ein Ersatzmechanismus in Kraft treten, sodass das höchste Gericht immer arbeitsfähig bleibt. Hier Nein zu sagen, kommt nicht infrage.

Friedrich Merz wird sich bewegen müssen

Es sind also eine ganze Menge wichtiger Vorhaben, die den Unionskanzlerkandidaten unter Druck setzen. Jetzt, da sich Olaf Scholz bewegt hat, wird er auch er sich bewegen müssen. Ansonsten riskiert er seine Wahlchancen. Und die Kanzlerschaft.