Die Rückkehr des FC Bayern München zum FC St. Pauli gleicht einem Pflichtbesuch – mit einem sehr schönen Geschenk von Jamal Musiala.
Thomas Müller hatte verkündet: Lange nicht mehr in Hamburg sei er gewesen, schrieb er Mitte der Woche in den sozialen Medien, paar Jahre her, genau gesagt: sieben. Zum Spiel gegen den HSV war das, damals noch erste Liga, also wirklich lange her, da hat Müller recht.
Der letzte Besuch am Millerntor liegt sogar noch ein paar mehr Jahre zurück, dreizehn. 2011 endete es aus der Sicht der Gastgeber 1:8, darunter dreimal Mario Gomez. Der Kicker meldete damals, es war der 33. Spieltag: „Der FC Bayern hat den FC St. Pauli endgültig in Zweite Liga geschickt.“
Auch wenn beide Klubs bislang nur selten aufeinandergetroffen sind, gibt es viele Geschichten, die sie sie miteinander verbinden: Das 2:1 des FC St. Pauli von 2002 etwa, bei den Bayern spielten noch Mehmet Scholl, Oliver Kahn und Stefan Effenberg. Danach sollen die Münchner aus dem Stadion geflohen sein, auch wegen der für sie nicht akzeptablen sanitären Anlagen in der Gästekabine.STERN PAID Interview Fabian Hürzeler 17.41
Tickets für das Match sind eine Rarität
Die Paulianer beflockten danach T-Shirts mit dem Wort „Weltpokalsiegerbesieger“, einem Wort, das der heutige St. Pauli-Spieler Jackson Irvine, ein Australier, gerade mit „The defeaters of the world cup winners“ zu übersetzen wusste. Da versagt auch das sonst so poppige Englisch.
Die Jahre, in denen der FC Bayern elfmal in Serie Deutscher Meister wurde, verbrachte St. Pauli durchgehend in der Zweiten Liga, ab und zu sogar am Rande des Abstiegs. In dem Jahr, da der FC Bayern nicht Deutscher Meister wurde, kehrten die Hamburger (anders als ihre Nachbarn vom großen HSV) zurück in Liga eins, und endlich ist wieder ein Spiel des Jahres angesetzt am Millerntor. Die beste Scherzfrage in den Tagen zuvor: „Hast du noch ein Ticket für mich?“ Eine Eintrittskarte für das Duell zu bekommen, war schwieriger, als Mitglied in der Wagenknecht-Partei zu werden, und schon das gilt als unmöglich. Rund ums Stadion hielten viele Fans Schilder noch, etwa „Meine Mama sucht noch ein Ticket für die Gegengerade“. Der Erfolg dürfte überschaubar gewesen sein.
Und die Bayern? Freuten sich, zumindest Thomas Müller. Für ein Team, das zwischen Liga und Champions League pendelt, ist ein Besuch in der Hansestadt eher ein Kurztrip. Zeit für eine Hafenrundfahrt dürften sie keine mitgebracht haben. Am Vorabend landeten sie um halb sieben, checkten in ein feines Hotel in der Innenstadt ein, fast fußläufig zum Stadtteil St. Pauli. Die wartenden Bayern-Fans wurden für ihr Aushalten in der Novemberkälte nicht belohnt, nur Trainer Vincent Kompany und Spieler Joshua Kimmich bekritzelten ein paar ausgestreckte Trikots. Die Verkommenheit der Gesellschaft ließ sich auch hier beobachten: Ein erwachsener Mann drängte ein paar Teenie-Jungs zur Seite, um ein Autogramm zu ergattern. Die Jungs gingen leer aus.Deadline Day teuerste Bundesligatransfers im Sommer 12.25
FC St. Pauli und FC Bayern München: die größten Antipoden im System des deutschen Fußballs
Für den FC St. Pauli war es auch aus einem zweiten Grund ein besonderer Tag: An ihm begann die erste Genossenschaft im deutschen Profifußball. Jede und jeder ist aufgerufen, Anteile am Verein zu erwerben, damit soll das Stadion ausgebaut werden. Den Verein drücken Verbindlichkeiten in der Höhe von 28 Millionen Euro. Für die Gäste aus München ein paar Trainerabfindungen, für den Kiezklub eine ganze Welt.
Als Gastgeschenk haben die Bayern-Fans viele Fahnen in den Farben von St. Pauli mitgebracht, mit denen sie vor Spielbeginn winken. Die Anhänger der Vereine, die man als größte Antipoden im System des deutschen Fußballs betrachten kann (Champagner-Millionäre gegen Bierpunks), verbindet eine Freundschaft. Ungleich und ungleich gesellt sich gern. Umso größer ist die Wiedersehensfreude nach all den Jahren. Die Frage ist, welche Geschenke bringen die Spieler mit?
Jamal Musiala hat seines mit extra hübscher Schleife verpackt: Er bekommt in der 22. Minute den Ball im vorderen Mittelfeld, verliert ihn, erobert ihn zurück, schlägt ein paar Häkchen (er braucht für seine Kunst nicht viel Platz) und sendet den Ball mit aller Wucht und Schönheit unter die Latte. Diesen Spieler im Stadion zu erleben, grenzt an eine Rauscherfahrung. Danach beginnen die Bayern, den Hamburgern langsam die Luft abzuschnüren. Sie fangen die meisten Bälle ab und drücken den Gegner immer tiefer in dessen Hälfte. Würde Leon Goretzka, zurückgekehrt in die Startformation, nicht ab und zu einen Fehlpass einstreuen, käme Pauli fast gar nicht an den Ball.
Thomas Müller muss das Spiel von der Seitenlinie betrachten
St. Pauli stemmt sich gegen Dauerdruck mit Arbeitertugenden: Die Spieler gehen in jeden Zweikampf, zwischen Harry Kane und dem Ball steht oft ein Paulikörper. Block’n’Roll. Sollten sie aber mal einen eigenen Spielzug initiieren, stellt sich ihnen wiederum ein Bayernschrank in den Weg: Rustikal können die Münchner auch; oft sieht man Pauli-Spieler über den Boden kullern, abgeprallt bei Dayot Upamecano oder Minjae Kim. Da liegen sie dann da und schauen verzweifelt zum Schiedsrichter, doch der winkt den Verkehr einfach weiter, meistens. Kim hätte, ging es nach den Pauli-Fans, für seine Stopp-Aktionen Gelb-Rot sehen sollen. Sieht er nicht.
Thomas Müller, der sich so auf Hamburg gefreut hat, muss das Spiel, das zunehmend einem Verwaltungsvorgang gleicht, weitestgehend von der Seitenlinie betrachten, mit lustigen Aufwärmbewegungen. Ab und zu erinnert sich Musiala an die Bedeutung des Worts Schwung, vielleicht überlegen sich seine Mitspieler währenddessen, ob die Anteile bei St. Pauli zeichnen sollen und was ihr Bankberater wohl dazu sagt. Harry Kane vergibt zwei Großchancen, und dann kommt, 90. Minute, Müller für ein Andenkenfoto aufs Spielfeld, und just als er zu einem Angriff losrennen will, pfeift der Schiedsrichter die Partie ab. Ein kühles 1:0 für den Tabellenführer. Nach dem Spiel äußern einige Pauli-Spieler den Reportern gegenüber ihr unbestimmtes Gefühl, das wäre mehr drin gewesen. War aber nicht.
Die Münchner sollten noch mal wiederkommen, dann gern mit Hafenrundfahrt.