Wie die Bundesregierung im August 2021 im Krisenmodus die Evakuierung aus Kabul organisiert hat, ist nicht zur Wiederholung empfohlen. Als Zeugen befragt ein Ausschuss dazu jetzt Horst Seehofer.
Staatssekretäre aus verschiedenen Ministerien, die sich regelmäßig zur aktuellen Lage austauschen, aber keine Entscheidungen treffen. Ein über Monate ungelöster Dauerkonflikt zwischen Innenministerium und Auswärtigem Amt. Das sind nur zwei von mehreren strukturellen Problemen, die der Afghanistan-Untersuchungsausschuss des Bundestages zutage gefördert hat.
Das Gremium, das die Umstände der hektischen deutschen Evakuierung aus Kabul im August 2021 und die Aufnahme afghanischer Ortskräfte unter die Lupe nimmt, tagt in Sitzungswochen immer donnerstags. Bisher ist das öffentliche Interesse überschaubar – wohl auch weil mit dem Ukraine- und dem Nahost-Krieg neue Krisen die Schlagzeilen bestimmen.
Ausschuss befragt frühere Mitglieder des letzten Merkel-Kabinetts
Mit der Befragung von Ex-Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) als Zeuge an diesem Donnerstag neigt sich die Beweisaufnahme langsam dem Ende zu. Nach Seehofer wollen die Abgeordneten, die am Ende einen Bericht mit Empfehlungen für effizientere Abläufe in Krisenlagen verfassen sollen, bis Weihnachten noch mehrere ehemalige und aktuelle Kabinettsmitglieder befragen. Dazu zählen – Stand jetzt – auch Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD), Altkanzlerin Angela Merkel (CDU), die frühere Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer (CDU) und Ex-Außenminister Heiko Maas (SPD).
Seehofer wird wohl vor allem Fragen zu den von ihm forcierten letzten Abschiebungen nach Afghanistan vor der Machtübernahme durch die Taliban in Kabul beantworten müssen. Zudem wollen die Abgeordneten von dem Polit-Pensionär wissen, weshalb das von ihm damals geleitete Ministerium bei der Aufnahme von Ortskräften der Bundeswehr und ehemaligen Mitarbeiter anderer deutscher Institutionen aus Afghanistan im Sommer 2021 auf umfangreichen Sicherheitsprüfungen bestand. Das hat den Prozess der Aufnahme stark verlangsamt.
Aufwendige Prüfung oder rasche Aufnahme?
Das Auswärtige Amt beharrte zwar bis zur letzten Minute darauf, die deutsche Botschaft in Kabul geöffnet zu halten, sprach sich aber für ein vereinfachtes Aufnahmeverfahren für Ortskräfte mit einer Visaerteilung bei Ankunft aus.
Im Juni 2021 gab es eine Abfrage bei den verschiedenen Ressorts der Bundesregierung, um herauszufinden, wie viele Ortskräfte seit 2013 – diesen Zeitraum hatte Merkel festgelegt – für die verschiedenen deutschen Institutionen tätig waren und damit theoretisch für eine Aufnahme infrage kämen. Das Auswärtige Amt meldete zunächst 59 Afghanen an, das Verteidigungsministerium 1.300 Ortskräfte mit Arbeitsvertrag mit der Bundeswehr, das Entwicklungsministerium kam auf mehr als 3.500 ehemalige und aktuelle lokale Mitarbeiter. Das Innenministerium schätzte, da einige schon Zusagen erhalten hätten, sei mit maximal 70 weiteren Anträgen zu rechnen.
Wie ein Sprecher des Bundesinnenministeriums auf Anfrage mitteilt, hat die Bundesregierung insgesamt in den laufenden Aufnahmeverfahren aus Afghanistan die Einreise von über 36.000 gefährdeten Afghaninnen und Afghanen einschließlich ihrer Familienangehörigen ermöglicht. Im Rahmen des Bundesaufnahmeprogramms lägen derzeit für 3.082 Afghanen inklusive Angehöriger Aufnahmezusagen vor, davon seien 682 mittlerweile eingereist.
„Es soll insbesondere ausgeschlossen werden, dass Personen aufgenommen werden, die eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung darstellen könnten“, teilt eine Sprecherin des Innenministeriums mit. Zu diesen Prüfungen gehören ihren Angaben zufolge seit Juni 2023 auch Befragungen vor der Einreise. Nach Kenntnis der Bundesregierung habe es bisher keine Fälle gegeben, in denen Menschen aus dem Bundesaufnahmeprogramm für Afghanistan trotz Sicherheitsbedenken und Zweifeln eingereist seien. Sollten solche Bedenken auftauchen, werde die Aufnahmezusage aufgehoben, „sodass die Grundlage für eine Visumserteilung zwecks Einreise entfällt“, teilte die Sprecherin mit.
Der Bundesregierung seien zudem keine Fälle bekannt, in denen Menschen, die über die Aufnahmeprogramme aus Afghanistan eingereist sind, „in Deutschland als Gefährder oder relevante Person im Bereich der Politisch Motivierten Kriminalität – Religiöse Ideologie – eingestuft wurden oder dem islamistischen Personenspektrum zugeordnet werden“, teilte die Sprecherin auf Nachfrage mit. Von einem „Gefährder“ spricht die Polizei, bei Menschen, denen sie schwere politisch motivierte Straftaten bis hin zu Terroranschlägen zutraut. Das „islamistische Personenspektrum“ ist eine Kategorie, die der Verfassungsschutz verwendet.
Die Grünen und die FDP waren am 15. August 2021, als die Taliban die afghanische Hauptstadt praktisch ohne Gegenwehr einnahmen, in der Opposition. Die Grünen-Politikerin Sara Nanni fragte Miguel Berger, damals Staatssekretär im Auswärtigen Amt, in einer Sitzung des Ausschusses, welche Entscheidungen die Staatssekretäre der verschiedenen Ministerien denn in ihren Runden zu Afghanistan damals getroffen haben. Seine Antwort: „Also, es ist ja nicht so, dass das Operative einer Staatssekretärsrunde sich daraus ergibt, dass man am Ende festhält: Eins, zwei drei, sondern dass man miteinander spricht und ein gemeinsames Verständnis über eine Situation entwickelt.“
Zeuge nennt Runde der Staatssekretäre „informelles Gremium“
Als die FDP-Abgeordnete Ann-Veruschka Jurisch vom damaligen Staatssekretär im Entwicklungsministerium, Martin Jäger, wissen will, ob die Runde überhaupt Entscheidungen getroffen oder – bei Problemen – auf die Ministerebene gehoben hätten, antwortete dieser: „Das war kein Gremium mit einer Entscheidung, wo es Beschlussvorlagen gab.“ Auch an einen formalen Verweisungsbeschluss auf die Ministerebene könne er sich nicht erinnern. Sein Fazit: „Das war ein informelles Gremium“.
Aus Sicht von Jurisch sind das Erkenntnisse, die für die Schaffung eines Nationalen Sicherheitsrats sprechen, den ihre Partei schon länger fordert. „Klare Entscheidungswege und Verantwortlichkeiten in der Sicherheitspolitik sind zwingend notwendig“, sagt die FDP-Politikerin. Und: „Zeitenwende bedeutet auch aus Fehlern der Vergangenheit zu lernen.“
Schon wieder organisierte Verantwortungslosigkeit?
Die Analyse erinnert an einen Untersuchungsausschuss der zurückliegenden Wahlperiode. Nach dem Terroranschlag auf dem Berliner Weihnachtsmarkt 2016 wurde bekannt, dass über den späteren Attentäter Anis Amri so häufig wie über kaum einen anderen radikalen Islamisten im Gemeinsamen Terrorabwehrzentrum (GTAZ) von Bund und Ländern gesprochen wurde, allerdings, ohne dass entsprechend gehandelt worden wäre. Der abgelehnte Asylbewerber aus Tunesien verkehrte in Salafisten-Moscheen, verkaufte Drogen. Bei den Behörden war er unter mehreren Aliasnamen bekannt.
Die Grünen-Innenpolitikerin Irene Mihalic bilanzierte später, nach zahlreichen Zeugenvernehmungen in einem Untersuchungsausschuss, im GTAZ habe damals „eine Art organisierte Verantwortungslosigkeit“ geherrscht. Aus Sicherheitskreisen ist zu hören, seit dem Anschlag auf dem Breitscheidplatz habe es im GTAZ einige Veränderungen gegeben – etwa eine bessere Festlegung klarer Zuständigkeiten für einzelne Fälle sowie eine engere Abstimmung operativer Maßnahmen. Auch werde bei den Sitzungen inzwischen ausführlicher Protokoll geführt.