Einmütig versammelt sich die FDP hinter Christian Lindners Wirtschafts-Papier und seiner Forderung nach einer radikalen Wende. Oder ist die Harmonie nur Show?
Volker Wissing erfreut sich seit ein paar Tagen überraschender Beliebtheit: Der FDP-Mann hat einen Fanblock in der SPD. Reihenweise verkündeten prominente Sozialdemokraten übers Wochenende in sozialen oder anderen Medien, wie klug sie einen Beitrag fanden, den der Verkehrsminister vergangenen Freitag in der Frankfurter Allgemeinen geschrieben hatte. SPD lobt FDP – verkehrte Welt?
Wissings Artikel war ein Plädoyer an alle Ampel-Parteien, sich – salopp gesagt – zusammenzureißen. „Koalitionen sind nicht einfach. Regieren ist nicht einfach. Demokratie ist nicht einfach“, hatte Wissing geschrieben. „Wir tragen die Verantwortung dafür, dass es gemeinsam gelingt.“
Wahrscheinlich hätte der Artikel keine größere Beachtung gefunden, wäre nicht wenige Stunden später das Papier von FDP-Chef Christian Lindner bekannt geworden, in dem der Finanzminister mit weiten Teilen der Wirtschaftspolitik von Olaf Scholz und Robert Habeck abrechnete und eine Wende forderte, die so mit den Ampelpartnern nicht zu machen sein wird.
Plötzlich stand Wissing öffentlich gegen Lindner. Der Verkehrsminister pries die Ampel, der Finanzminister haderte mit der ganzen Richtung. Vieles sei der Koalition „sehr gut gelungen“, schwärmte Wissing. Lindner forderte in seinem Papier eine „teilweise grundlegende Revision politischer Leitentscheidungen“, um Schaden vom Standort Deutschland abzuwenden.
Das konnte kein Zufall sein. In den vergangenen Monaten hatte es schon gelegentliche Berichte über Konflikte zwischen den beiden FDP-Ministern gegeben. Zudem hatte Wissing seinen Artikel nun ausgerechnet in der FAZ platziert – ein beliebter Ort für aufsehenerregende Distanzierungen innerhalb einer Partei: An gleicher Stelle hatte Angela Merkel 1999 den Bruch mit Helmut Kohl vollzogen. Und ebenfalls in der FAZ schrieb NRW-Ministerpräsident Hendrik Wüst im Frühjahr 2023 einen kritischen Artikel zur Ausrichtung der CDU, mit dem er seinen Parteifreund Friedrich Merz derart zur Weißglut brachte, dass der CDU-Chef den Rivalen öffentlich abkanzelte.
Ganz viel Lob für Wissing aus der SPD
Nun also Wissing gegen Lindner? Die Sozis ließen jedenfalls keinen Zweifel, wem ihre Sympathie galt. Als „lesenswerten Beitrag“ bewarb Wolfgang Schmidt, Chef des Kanzleramtes und politischer Intimus von Olaf Scholz, den Artikel. Karl Lauterbach übernahm: Er sehe das genauso wie die Kollegen Wissing und Schmidt. Die Ampel sei dafür gewählt, als Team überfällige Reformen durchzusetzen, schrieb der Gesundheitsminister auf dem Nachrichtendienst X. Und SPD-Chef Lars Klingbeil sagte der „Augsburger Allgemeinen“, ihn nervten die ständigen Spekulationen um einen Koalitionsbruch. „Ich bin da mehr bei meinem FDP-Kollegen Volker Wissing: Regieren ist nicht einfach, aber wir tragen eine Verantwortung, dass es gelingt.“
Nicht nur wegen des Wirtschaftspapiers von Christian Lindner und seiner Ähnlichkeit mit dem Scheidungsbrief liegt seit ein paar Tagen ein Hauch von 1982 über Berlin und der Ampel. Auch innerhalb der FDP deuten sich Parallelen an. Denn die Linie von Hans-Dietrich Genscher und Otto Graf Lambsdorff, die Koalition mit der SPD aufzukündigen, war damals innerhalb der Liberalen heftig umstritten. Nicht nur mehrere prominente Abgeordnete wie Hildegard Hamm-Brücher oder Günter Verheugen, waren dagegen. Auch Innenminister Gerhart Baum versuchte den Bruch bis zuletzt zu verhindern. Könnte Volker Wissing 42 Jahre später seine Rolle spielen?
Wissing war immer der Mann für die Ampel
Wissing und Lindner verbindet ein pragmatisches, aber wohl kein freundschaftliches Verhältnis. Der Parteichef berief den rheinland-pfälzischen Wirtschaftsminister 2020 als Generalsekretär der Bundes-FDP. Wissing regierte damals seit vier Jahren mit der Sozialdemokratin Malu Dreyer und den Grünen in einer Koalition in Mainz. Kurz nach der Nominierung von Olaf Scholz zum Kanzlerkandidaten der SPD galt Lindners Personalentscheidung als Zeichen für eine Öffnung in Richtung Ampel-Koalition.
Woche der Entscheidungen in der Ampel 5.54
Wissing brachte schon gute Kontakte mit. Mit Robert Habeck hatte er 2017 das Landwirtschaftskapitel für eine Jamaika-Koalition unter Angela Merkel fertig verhandelt, die letztlich doch noch scheiterte. An Lindner.
Als es 2021 zu Ampel-Verhandlungen kam, agierte Wissing als ein wichtiger liberaler Brückenbauer. Der Generalsekretär war auch der Fotograf des legendären Selfies, auf dem er mit Lindner, Habeck und Annalena Baerbock zu sehen ist, mit dem die Spitzen von FDP und Grünen damals ihren gemeinsamen Regierungsanspruch illustrierten.
In der Ampel wurde Wissing Minister für Verkehr und Digitales – für eine Wirtschaftspartei wie die FDP wichtige Bereiche. Der Minister nahm eine Bahnreform in Angriff und setzte das Deutschland-Ticket durch, letzteres gegen Lindners Widerstand, der ihn anschließend aber ausdrücklich dafür lobte. Aus Sicht mancher Parteifreunde verkauft Wissing seine Erfolge zu wenig.
Sowohl mit einem überraschenden Positionswechsel in Sachen Elektro-Mobilität und E-Fuels, vor allem aber mit der Umwelt-Bilanz im Verkehrsbereich geriet Wissing zudem unter massive öffentliche Kritik. Da allerdings konnte er sich auf Lindner verlassen, der in der Koalition ein neues Klimaschutzgesetz durchsetzte, das vor allem Wissings Ressort entlastete.
Wissing und Lindner: Differenzen beim Geld
Zuletzt gab es wieder Berichte über Differenzen beim Geld. Eine Einigung über die Zukunft des Deutschland-Tickets gelang erst nach hartem Ringen. Die Idee Wissings für einen Investitionsfonds lehnte Lindner ab. Im Juli schrieb der Spiegel: „Das Ansehen des Verkehrsministers bei seinem FDP-Chef Christian Lindner ist auf dem Tiefpunkt.“ Aus den Haushaltsverhandlungen wiederum ging Wissing weniger gerupft hervor, als er nach ersten Entwürfen befürchten musste.
Setzt sich Wissing nun also ab von seinem Vorsitzenden? Oder spielen die beiden mit verteilten Rollen? Ein FDP-Mann, der das beurteilen kann, sagt, der Konflikt sei echt. Bei den Wirtschaftsgipfeln, die der Finanzminister als Konkurrenzveranstaltung zu den Spitzentreffen des Kanzlers mit der Industrie veranstaltet, kommt Wissing zumindest öffentlich keine herausgehobene Rolle zu.
Das Präsidium der FDP stellte sich am Montag hinter das Papier von Christian Lindner. „Der Autor des Gastbeitrages nahm an der Sitzung teil“, teilte FDP-Generalsekretär Bijan Djir-Sarai hinterher ein wenig spitz mit – und ohne Wissing beim Namen zu nennen. Die Zustimmung sei einstimmig gewesen, so Djir-Sarai. Wissing gehört dem Gremium nur als Gast an.