Christian Lindner fordert eine Umkehr in der Wirtschaftspolitik. Wenn er seine Ideen zur Bedingung für die Fortsetzung der Regierung macht, gibt es diese Regierung nicht mehr.

Ein Papier geht um in Berlin. Eine Art wirtschaftspolitisches Grundsatzprogramm des Bundesfinanzministers, 18 Seiten politischer Sprengstoff. Und Christian Lindner will natürlich unbedingt, dass man an Otto Graf Lambsdorff denkt. „Konzept für eine Politik zur Überwindung der Wachstumsschwäche und zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit“, so hieß das Papier, mit dem der einstige Wirtschaftsminister den Bruch der rot-gelben Koalition einleitete, als Lindner drei Jahre alt war. „Konzept für Wachstum und Generationengerechtigkeit“ heißt das Papier, das der FDP-Chef jetzt mit 47 vorlegt. Otto Graf Lindner.

Christian Lindners Wirtschaftspapier 14.40

Die Unterschiede zwischen 1982 und 2024 sind marginal: Lindner ist Finanzminister, Lambsdorff war Wirtschaftsminister. Der liberale „Marktgraf“, so Lambsdorffs Spitzname, war von Kanzler Helmut Schmidt um eine Aufstellung seiner Vorstellungen gebeten worden, Lindner liefert sein Programm offenbar unaufgefordert an Olaf Scholz. 42 Jahre nach dem berühmten Scheidungspapier der SPD-FDP-Koalition liegt nun wieder ein Schreiben auf dem Schreibtisch des Kanzlers und anderer Koalitionäre, das auf jeden Fall für mächtig Ärger sorgen wird und der ohnehin verbrauchten Ampel den Rest geben könnte.

Lindners Lambsdorff-Papier: Die Parallelen sind frappierend

Der Finanzminister legt sich nicht fest, ob es sich um Vorschläge oder Forderungen handelt, um Impulse oder Bedingungen. Das Papier ist nicht im „Muss“-Stil verfasst, sondern mit vielen „Sollte“-Formulierungen. Aber es ist völlig klar: Wenn Lindner an diese Vorschläge den Fortbestand der Regierung knüpft, gibt es diese Regierung nicht mehr. 

Wenn sich Geschichte wiederholt
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Die Parallelen zum Papier von 1982 sind in Aufbau und Inhalt frappierend. Strenge Haushaltsführung, Bürokratieabbau, Investitionen, Sozialkürzungen – so stand es bei Lambsdorff, so steht es jetzt bei Lindner. Damals wie heute haben die beiden Liberalen in der Betrachtung der wirtschaftlichen Lage weit ausgeholt, beiden Papieren ist gemeinsam, dass sie sich abwenden von einer Wirtschaftspolitik, die sie bis dahin murrend mitgetragen haben. Und noch etwas ist beiden Papieren gemeinsam: In Wahrheit ist die Wirtschaft zweitrangig, an erster Stelle steht die Politik.

In Lindners Papier geht es nicht nur um einzelne Maßnahmen, die der Finanzminister zur Debatte stellt. Es geht um eine Abrechnung. Er verurteilt grundsätzlich einige der politischen Ansätze von Olaf Scholz und Robert Habeck. Die bisherige Industrieförderung des Kanzlers will er ebenso beenden wie die Klimapolitik des Wirtschaftsministers. Er will sparen und zugleich Steuersenkungen, die das Haushaltsloch, das sie reißen, selbst wieder stopfen sollen. Er stellt einem angeblichen staatlichen Dirigismus von Scholz und Habeck seinen alleinigen Anspruch gegenüber, die Prinzipien der sozialen Marktwirtschaft aufrechtzuerhalten. Lindner inszeniert sich als Marktgraf Christian der II., nur ohne Adelstitel.Lindners Vorbild? FDP-Wirtschaftsminister Otto Graf Lambsdorff im Gespräch mit FDP-Chef Hans-Dietrich Genscher und dem neuen Kanzler aus der CDU: Helmut Kohl
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Mit seinem Konzept ignoriert Lindner bewusst rote Linien

Ganz bewusst überschreitet Lindner rote Linien. Die Kritik am Tariftreuegesetz von Arbeitsminister Hubertus Heil ist eine Provokation für ganze SPD. Die Forderung, den Klima- und Transformationsfonds aufzulösen, zielt darauf ab, Robert Habeck zu entmachten. Die flüchtlingspolitischen Forderungen, die gewünschten Kürzungen beim Bürgergeld wie auch die Vorschläge einer klimapolitischen Streckung signalisieren, wen Lindner als den natürlichen Koalitionspartner betrachtet: die Union.

Das ist im Übrigen der größte Unterschied zu 1982. Damals konnte sich die FDP Helmut Kohl in die Arme werfen. Das wird diesmal nicht gehen. Ein Ende der Ampel bedeutet fast zwangsläufig Neuwahlen. Auch das weiß Lindner natürlich. Deshalb ist sein Papier auch so geschrieben, dass man es bereits als liberales Wahlprogramm lesen kann. Und sehr wahrscheinlich auch soll.