Historisches Novum in Österreich: Bundespräsident Alexander van der Bellen hat den Chef der bei der Parlamentswahl zweitplatzierten ÖVP, Bundeskanzler Karl Nehammer, mit der Regierungsbildung beauftragt. Van der Bellen begründete dies am Dienstag mit dem „vollkommen unüblichen Fall“, dass keine andere Partei mit dem Wahlgewinner, der rechtspopulistischen FPÖ und ihrem Spitzenkandidaten Herber Kickl, zusammenarbeiten will. 

Üblicherweise erhält in Österreich der Vorsitzende der stärksten Partei den Auftrag zur Regierungsbildung. FPÖ-Chef Kickl habe jedoch keinen Koalitionspartner gefunden, „der ihn zum Bundeskanzler macht“, sagte van der Bellen unter Bezug auf die bisherigen Sondierungsgespräche nach der Wahl von Ende September. 

„Wenn eine Situation neu ist, braucht sie auch neue Lösungen“, sagte van der Bellen. Es gehe nun darum, „auf anderem Weg, so rasch wie machbar eine handlungsfähige, stabile, integre Bundesregierung zustande zu bringen“. Der Bundespräsident ersuchte Nehammer darum, „umgehend“ Koalitionsverhandlungen mit den drittplatzierten Sozialdemokraten (SPÖ) aufzunehmen. 

Der ÖVP-Chef sagte wenig später, er nehme den Auftrag zur Regierungsbildung an und wolle dem Wunsch nach dem raschen Beginn von Gesprächen mit der SPÖ nachkommen. 

Nehammer dämpfte allerdings die Erwartungen: „Ich kann Ihnen heute noch nicht sagen, ob diese Gespräche und Verhandlungen tatsächlich zu einer Regierungsbildung führen werden.“ Die Gespräche mit der SPÖ seien „ein erster wichtiger Schritt, aber mit Sicherheit nicht der letzte“, betonte der Kanzler. „Im Sinne einer stabilen parlamentarischen Mehrheit wird es einen dritten Partner brauchen.“ 

ÖVP und SPD kommen im neuen Nationalrat zusammen auf 92 der 183 Sitze – also eine Mehrheit von nur einer Stimme. Die liberalen Neos bekräftigten nach der Erteilung des Regierungsauftrags an Nehammer ihre Kooperationsbereitschaft. Sie stehe für „ernsthafte Sondierungsgespräche“ zur Verfügung, zitierte die österreichische Nachrichtenagentur APA eine Stellungnahme der Partei.

Kickl erklärte, van der Bellens Entscheidung, „mit den bewährten und normalen Prozessen unserer zweiten Republik“ zu brechen und nicht den Wahlgewinner FPÖ zu beauftragen, habe für seine Anhänger sicher wie „ein Schlag ins Gesicht“ gewirkt. „Aber ich verspreche euch, das letzte Wort ist noch nicht gesprochen“, fügte der Chef der Rechtspopulisten hinzu. 

Die Wahl sei „ein unüberhörbarer Ruf nach Veränderung und Erneuerung“ gewesen, schrieb Kickl in seiner im Onlinedienst Facebook veröffentlichten Erklärung weiter. Die FPÖ habe die „staatspolitische Verantwortung, die Hand weiter ausgestreckt zu halten. Wir wollen für Österreich arbeiten und sind dazu bereit, Verantwortung zu übernehmen.“ 

Alle anderen im Parlament vertretenen Parteien haben jedoch eine Zusammenarbeit mit dem stramm rechten Kickl ausgeschlossen.

Bei der Wahl am 29. September war die FPÖ mit 28,85 Prozent der Stimmen erstmals stärkste Kraft geworden. Die ÖVP erzielte 26,3 Prozent, gefolgt von der SPÖ mit 21,1 Prozent, den Neos mit 9,1 Prozent und den Grünen mit 8,2 Prozent.