Überall dieses Schimpfen, überall dieses Toben: Unser Kolumnist sucht nach Gründen für die Eskalation im Alltag, auch bei sich selbst.

Man kennt das: Es ist Fußball, und die Spieler müssen sich teilweise die unflätigsten Dinge anhören. Übelste Beschimpfungen und Geschrei. Zumeist kommt all das von den Rängen. Ab und zu aber direkt von denen, die mit dir auf dem Feld stehen, besonders von meinem Freund Niklas. Der zeterte unlängst wieder einmal derart ungehemmt, als ginge es darum, Kinskis Auftritt in „Fitzcarraldo“ auf diesem kleinen Feld in Berlin-Mitte nachzustellen. Man muss dazu sagen: Niklas kommt aus Berlin. Dort, wo „Jetzt nimm die zwei Brötchen und verpiss dich“ als normale Verabschiedung gilt. Er hat genetisch nie eine Chance gehabt, normal mit Menschen zu kommunizieren. Also tourettierte er munter vor sich hin. Der Anlass? Der Spielstand wurde ihm zufolge von einem der gegnerischen Spieler nicht gleich korrekt wiedergegeben, sodass es nach unserer grandiosen Aufholjagd nicht 4:4, sondern 3:5 stand. Da ist er durchgetickt. Sommerhausstufe eins. Ich meine sogar, am Rand des Platzes Mütter gesehen zu haben, die ihrem Kind die Ohren zuhielten: „Lass den Onkel, der ist krank.“kurzbio beisenherz

So amüsant es auch sein mag: Blanker Hass gehört nicht auf ein Fußballfeld. Den lässt man besser an Fremden im Straßenverkehr aus. Im Auto ist komplette Enthemmung schließlich Usus; schon das geringste Nehmen einer Vorfahrt führt zu schlimmsten Verwünschungen. Die Abgeschieden- und somit auch Sicherheit einer Fahrgastzelle lädt offenbar zum Toben ein. So wie wir im Zoo gern pubertierenden Schimpansen hinter Glas dabei zusehen, wie sie ausflippen, weil sie partout nicht an unsere Tüte Pom-Bär rankommen. Wir dürfen das Auto als eine rollende Wuthöhle verstehen. Hier darf ich eskalieren.

In meinem Falle verläuft der Wandel vom Über-Ich zum Es wie eine fast stufenlose Automatik. Warte ich etwa in einer engen Straße kurz in einer Bucht, um den anderen Wagen passieren zu lassen, bin ich die beste Version meiner selbst: höflich und selbstlos. Fährt der Arsch, den ich vorgelassen habe, dann grußlos und undankbar an mir vorbei, möchte ich ihn am liebsten die 17 Kilometer bis zu ihm nach Hause verfolgen. Mache ich natürlich nicht. In diesem speziellen Falle sehe ich ja noch die Reaktion des ignoranten Verkehrsteilnehmers hinter der Windschutzscheibe. Oft, und da liegt häufig die Ursache für die Entfesselung, werden die anderen durch das sie umgebende Metall entmenschlicht. Sie werden zum Objekt. Eigentlich beschimpfen wir Zustände, weniger echte Personen.

In den sozialen Medien wird rhetorisch geholzt, was das Zeug hält

Die digitale Entsprechung der Fahrgastzelle ist das schützende Rechteck der Kommentarspalte. Auch hier wird rhetorisch geholzt, wie es im realen Leben zum Glück kaum vorkommt. In den sozialen Medien verbinden wir den anderen schlicht nicht mit einem echten Menschen. Nicht wenige haben dort weder ein echtes Profilbild noch einen authentischen Namen und bieten sich an als digitaler Salzstock, wo wir unsere giftigen Gedanken einlagern können. Handelt es sich mal um reale Personen, taugen sie uns bestenfalls als Projektionsfläche für unsere Wut. Das ist in seiner Heckenschützenhaftigkeit nicht nur laut, sondern auch billig.

Subjektive Gründe für dieses Wutgefühl gibt es viele: Lohnungerechtigkeit, Wohnungsknappheit, vermüllte S-Bahnen, Wärmepumpen, gesperrte Brücken, Scheidungskrieg, Proteinpudding ist wieder aus oder eben: das eigene Team auf dem Fußballplatz in Berlin-Mitte. Dass Niklas so zetert, ist ein wenig zu laut, aber zumindest nicht feige. Und lieber einer, der in die Hecke schießt als aus ihr. Auch so kommt dann ein 3:5 zustande.