Nervös blicken die Sozialdemokraten auf die Wahl in Brandenburg: Kann Ministerpräsident Dietmar Woidke ihre Bastion verteidigen? Und was macht das Ergebnis mit Scholz?

Dietmar Woidke ist 17 Minuten zu spät, also kommt er gleich zur Sache. Jetzt stehe es „Spitz auf Knopf“, beschwört Brandenburgs Ministerpräsident die Menge auf der Festwiese. Die SPD hat in den jüngsten Umfragen zur AfD aufgeschlossen. „Das ist eine Entscheidungswahl“, ruft Woidke: „Wir oder die.“ 

Freitagnachmittag, Wahlkampfabschluss in Brandenburg. Endspurt für Woidke – und Endspiel für Olaf Scholz? In der SPD blicken sie nervös nach Potsdam, auf das, was die Ergebnisse am Sonntag in der Partei mit Blick auf die Bundestagswahl in einem Jahr auslösen könnte. 

Der Druck im Kessel steige, raunen SPD-Abgeordnete in Berlin, und je nach Ausgang könnte sich dieser Druck ein Ventil suchen. Heftige Personaldebatten: Wollen selbst Spitzengenossen nicht ausschließen. Trifft’s die Parteiführung? Kabinettsmitglieder? Oder gar den Kanzler? 

Das 0,1-Prozent-Szenario

Zwar konnte die historische Zäsur bei den Landtagswahlen in Sachsen und Thüringen noch abgewendet werden. Die SPD hielt sich – auf kümmerliche einstellige Werte zusammengestutzt – in den Landtagen. Aber sollte Brandenburg verloren gehen, das seit 1990 fest in sozialdemokratischer Hand ist: Dann dürfte endgültig eine Debatte Fahrt aufnehmen, die aus Rücksicht auf den Wahlkampf zurückgestellt wurde. Kann sich der unbeliebte Olaf Scholz als Kanzler(kandidat) halten, sollte Woidkes SPD hinter der AfD landen?

Woidke setzt für einen Sieg auf maximale Zuspitzung auf seine Person und deutliche Distanzierung zu Berlin. Eine verwegene Taktik, die zur Folge hat, dass der Kanzler bei dieser Wahl praktisch nichts gewinnen kann – außer eine Verschnaufpause vom anhaltenden Geraune, ob er die SPD nochmal in einen Bundestagswahlkampf führen kann. Mehr dazu später.

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Jüngsten Umfragen zufolge wird’s ein Fotofinish, die SPD (27 Prozent) und AfD (28 Prozent) liefern sich ein Kopf-an-Kopf-Rennen. Schon 2019 gelang Woidke, den sich 59 Prozent der Brandenburger als Ministerpräsidenten wünschen, eine ähnliche Aufholjagd. Er ging schließlich als Sieger durchs Ziel, sogar mit knapp drei Prozent Vorsprung zu den Rechtspopulisten. 

Dietmar Woidkes Strategie, damals wie heute: Dietmar Woidke.

Der Ministerpräsident hat die Wahl zur Abstimmung über seine Person gemacht. Sollte die AfD vor der SPD liegen, dann sei er weg, sagt Woidke, der seit elf Jahren in Brandenburg regiert. Ein Ultimatum, das für klare Verhältnisse sorgen soll. Ich oder die. Den Wahlkampf konnte Woidke damit in einen Zweikampf umdeuten. Auf seinen Plakaten steht: „Wenn Glatze, dann Woidke“. 

Woidke zeige damit Einsatz, heißt es zwar anerkennend aus der Bundes-SPD, gehe für die Partei ins persönliche Risiko – als ob sich ein gewisser Sozialdemokrat in Berlin ein Beispiel an diesem Kampfgeist nehmen könnte. Allerdings birgt Woidkes Alles-oder-nichts-Strategie ein Risiko, das auch für Kopfschütteln sorgt. 

Denn sollte seine SPD nur eine Haaresbreite hinter der AfD liegen, und seien es nur 0,1 Prozentpunkte, dann müsste Woidke seinen Hut nehmen – oder Wortbruch begehen. Auch als Zweitplatzierte würde die SPD höchstwahrscheinlich weiterregieren, legt im Vergleich zur Landtagswahl 2019 (26,2 Prozent) vermutlich sogar zu. In letzter Konsequenz müssten die Genossen dennoch auf ihren beliebten Ministerpräsidenten verzichten. Woidke hat sich im Zweifel seine nahezu sichere Chance genommen, die Staatskanzlei zu behalten. Nicht alle halten das für klug.

Dietmar Woidke auf Abstand zum Kanzler

Woidke hält es für folgerichtig, schließlich werde auch über seine Arbeit abgestimmt, nicht zuletzt gehe es um Brandenburg. Und zwar nur um Brandenburg. Heißt also auch: nicht um Berlin. 

Der Ministerpräsident hält maximalen Abstand zur daueerregten Hauptstadt, ihrer rauflustigen Ampel-Koalition und auch zum unbeliebten Regierungschef. Auf die Frage, ob es gemeinsame Wahlkampfauftritte mit Scholz geben werde, sagte Woidke zum „Handelsblatt“ nur: „Nein.“ Die Brandenburger SPD habe immer das Glück gehabt, auf starke eigene Führungspersönlichkeiten setzen zu können. 

Autsch.

Das Ziel dieser deutlichen Abgrenzung ist offensichtlich: Der Sonntag soll keine Denkzettelwahl werden. Für den gemiedenen Kanzler könnte das zur Folge haben, dass er selbst von einem Wahlsieg seiner SPD nicht profitieren würde: Gewinnt Woidke, dann weil er sich vom Berliner Betrieb abgesetzt hat, verliert er, dann wegen des Berliner Betriebs – manche in der Partei halten das für eine selbsterfüllende Prophezeiung.

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Und so ist Scholz, der in Potsdam wohnt und seinen Wahlkreis hat – also auch dort, wo Woidkes Staatskanzlei liegt – als einfacher Abgeordneter auf „Sommerreise“ gegangen. Besuch im Filmmuseum, Besuch in der Backstube – nur kein Besuch bei Woidke, geschweige denn gemeinsame Auftritte auf der großen Bühne. Beim SPD-Sommerfest in Potsdam durfte Scholz keine Rede halten. 

Nach der Devise „Ohne Mampf, kein Kampf“ hat offenbar die restliche Parteiprominenz die Wahlkämpfe der örtlichen SPD-Abgeordneten unterstützt. Generalsekretär Kevin Kühnert lud in Potsdam zum Döner-Essen, Co-Parteichef Lars Klingbeil in Werder (Havel) zu Pizza. Auch bei Woidkes Wahlkampfabschluss gibt es Bratwurst im Brötchen, aber keine Spitzenpolitiker aus Berlin. „Es geht bei dieser Wahl vielleicht um so viel wie nie zuvor“, sagt da der Ministerpräsident. Die Ampel oder seine Bundespartei erwähnt Woidke mit keiner Silbe. 

Am Abend, wenn die Ergebnisse der Landtagswahl bekannt gegeben werden, hält auch Olaf Scholz weiten Abstand zu Berlin und Brandenburg. Zwangsläufig: Er ist beim Zukunftsgipfel der Vereinten Nationen in New York.