Allan Lichtman hat jede US-Wahl seit 1984 richtig vorhergesagt, außer im Jahr 2000. Jetzt setzt er auf Kamala Harris. Warum ist er sich so sicher? Ein paar kritische Nachfragen.

Professor Lichtman, Sie haben mithilfe ihres Modells den Ausgang aller Präsidentschaftswahlen seit 1984 richtig vorhergesagt, auch die Siege von Trump 2016 und Biden 2020, nur nicht Bushs Sieg im Jahr 2000. Wer gewinnt diesmal?
Meiner Vorhersage nach werden die Vereinigten Staaten einen wegweisenden neuen Präsidenten bekommen. Kamala Harris wird die erste Präsidentin der Vereinigten Staaten werden und damit Geschichte schreiben. Und sie wird die erste US-Präsidentin afroamerikanischer und südasiatischer Abstammung sein. Sie ist damit die Vorbotin einer Nation, die sich schnell zu einer Nation gemischter Abstammung entwickelt, in der die Weißen in der Minderheit sind.

Wie knapp ist die Entscheidung?
Das war eine sehr knappe und schwierige Vorhersage, weshalb ich sie spät getroffen habe. Die meisten Prognosen habe ich viel früher abgegeben, die Wiederwahl von Barack Obama 2012 schon Anfang des Jahres.

Allan Lichtman

Als wir das letzte Interview führten, vor sechs Monaten, sagten Sie, es wäre ein großer Fehler, Präsident Joe Biden auszutauschen. Was sagen sie jetzt?
Sie stellen mir eine unmögliche Frage. Wer weiß, was passiert wäre, wenn Biden Kandidat geblieben wäre. Es ist rein hypothetisch, und ich beschäftige mich nicht mit Hypothesen. Aber ich stehe dazu: Ich dachte, die Demokraten steuern auf eine Katastrophe zu: Sie verprügeln ihren amtierenden Präsidenten in der Öffentlichkeit, ein großer PR-Fehler. Zweitens dachte ich, es könnte ein großer Kampf in der Partei um die Nachfolge ausbrechen. Aber die Demokraten haben Rückgrat und Intelligenz bewiesen und sich hinter Harris versammelt.

Sie hatten stets Kontakt zum Weißen Haus und haben Biden animiert, große Reformen anzugehen und das Wahlkampfgetöse zu ignorieren. Haben Sie in letzter Zeit mit Biden gesprochen? 
Nein, ich habe mich in den letzten Wochen nicht mit Biden oder irgendjemandem aus dem Biden-Lager beraten.

Haben Sie sich für Ihre Prognose aktuelle Umfragen angeschaut? Da ist es ein Kopf-an-Kopf-Rennen.
Das tue ich nicht. Ich nehme Umfragen nicht für bare Münze. Ich rate: Ignorieren Sie all die Experten, die keinerlei wissenschaftliche Grundlage für ihre Prognosen haben. Ignorieren Sie alle Umfragen, es sind lediglich Momentaufnahmen und sie werden von vermeintlichen Experten wie Nate Silver missbraucht. Der lag 2016 komplett daneben.

Sprechen Sie mit Wählern, um ein Gespür für die Stimmung im Land zu bekommen?
Ich spreche nicht mit Wählern. Mein System funktioniert völlig anders. Ich versuche nicht, die Wahlprognose aus einzelnen Wählermeinungen zusammenzusetzen. Ich betrachte einfache, integrale Parameter und sage mit deren Hilfe seit 40 Jahren erfolgreich Wahlen voraus.

Analyse Fernsehdebatte Trump Harris 7.20

Kommen wir zu den 13 Kategorien ihres wissenschaftlichen Modells „Keys to the White House“. Ich würde diese gern nacheinander durchgehen und verstehen, warum Sie den Wahlsieg an Kamala Harris vergeben.
Ich muss ein wenig Kontext geben. Mein Modell „13 Schlüssel zum Weißen Haus“ basiert darauf, wie amerikanische Präsidentschaftswahlen historisch wirklich funktionieren. Das Modell bewertet die Stärken und Erfolge der Regierungspartei im Weißen Haus. Verliert sie sechs oder mehr der 13 Schlüssel, verliert sie auch die Wahl. Gewinnt die amtierende Regierung acht oder mehr Schlüssel, wird sie der Sieger.

Fangen wir mit der ersten Kategorie an, „Party Mandate – Die Regierung gewann die Midterm-Wahlen.“ Die Demokraten verloren zwar knapp das Repräsentantenhaus, dennoch wurden die Midterm-Wahlen als Erfolg für die Demokraten gewertet.   
Falsch. Denken Sie daran, dass mein Modell bis ins Jahr 1860 zurückreicht und in jeder Wahl funktioniert hat. Die Kategorien sind also sehr spezifisch und sehr gut definiert. Man kann nicht außerhalb dieser Parameter Dinge bewerten. Das können Sie mit Ihrem eigenen Modell tun. Aber wenn Sie mein System bewerten wollen, müssen Sie sich an meine Definition halten. Die besagt, dass die Partei, die an der Macht ist, mehr Sitze im Repräsentantenhaus haben muss als nach den letzten Midterms. Das war 2022 nicht so. Dieser Schlüssel ist also falsch. Er geht nicht an die Partei im Weißen Haus.

Schlüssel Nummer zwei: Der Amtsinhaber strebt eine Wiederwahl an. 
Da Biden aus dem Rennen ist, ist das natürlich falsch. Damit sind zwei Schlüssel weg. 

Ein schlechter Start für die Demokraten. Schlüssel drei: Die Partei im Weißen Haus hat eine umkämpfte Vorwahl vermieden.
Stimmt. Ich behaupte nicht, dass die Demokraten auf mich gehört haben, aber sie sind schlau genug gewesen und haben sich hinter Kamala Harris versammelt. Dieser Schlüssel geht an die Amtsinhaber.

Aber sehr demokratisch war das nicht, oder? Die Parteibasis hatte kein Mitspracherecht. 
Es wurde von den Delegierten so beschlossen. Sie haben für Harris gestimmt.

Sie hatten keine Wahl.
Verlassen Sie sich auf die Schlüssel. Ich kann es nicht oft genug betonen: Wenn Sie ein anderes Modell entwickeln möchten, ist das in Ordnung. Man kann Schlüssel, die seit 160 Jahren rückblickend richtig sind, nicht modifizieren oder verändern.

Der vierte Schlüssel: Es gibt keinen starken dritten Kandidaten.
Trifft zu. Die Kandidatur von Robert F. Kennedy Junior ist im Sande verlaufen.

Aber was ist mit Jill Stein von den Grünen? Sie ist immer noch im Rennen. Wenn Stein in den Swing States nur zwei Prozent gewinnt, könnte das die Wahl entscheiden.
Falsch. Zunächst einmal bin ich mir nicht einmal sicher, ob sie in den Umfragen bei zwei Prozent liegt. Außerdem kann man Wahlen auf diese Weise nicht analysieren. Die liegen in der Zukunft. Wie können Sie wissen, dass Jill Stein einen Swing State drehen wird? Dafür gibt es keine wissenschaftliche Grundlage. Ich betone nochmals, dass Sie außerhalb meines Systems gehen wollen. Aber wenn Sie mein System nutzen wollen, wovon ich ausgehe, müssen Sie sich daran halten.

Ich tu das. Ich möchte aber auch Fragen zur Interpretation stellen dürfen.
Es ist die gleiche Antwort auf jede Frage, die Sie stellen.

Das war die vierte Kategorie. Es steht 2:2. Kategorie fünf: Eine starke aktuelle Wirtschaftslage. Nach Jahren starken Wachstums schwächelt die Wirtschaft aktuell, die Arbeitslosenrate steigt. 
Das ist nicht die Definition des Schlüssels. Die Definition des Schlüssels ist, dass es im Wahljahr keine Rezession gibt. Es ist quantitativ. Es befasst sich nicht mit all diesen Gefühlen, über die Sie sprechen. Nicht ich bestimme über eine Rezession, sondern das National Bureau of Economic Research. Es gibt demzufolge keine Rezession und keine Möglichkeit, dass eine Rezession in weniger als zwei Monaten Fuß fasst. Dieser Schlüssel ist wahr.

Es steht also 3:2 für Kamala Harris. Schlüssel Nummer sechs lautet: Die langfristige Wirtschaftslage ist gut.
Auch das ist ein quantitativer Schlüssel. Es wird gefragt, ob das reale Pro-Kopf-Wachstum während der Amtszeit mindestens dem Durchschnitt der beiden vorangegangenen Amtszeiten entspricht. Das Wachstum des realen BIP pro Kopf unter Biden ist mindestens doppelt so hoch wie in den beiden vorangegangenen Amtszeiten. Dieser Schlüssel ist wahr. Wir haben also bisher nur zwei falsche Schlüssel.

Haben Sie die hohe Inflation miteinbezogen? Die Menschen sind sehr unzufrieden mit der Wirtschaftslage, vor allem, weil die Preise so hoch sind.
Das Wachstum wird inflationsbereinigt berechnet.

Aber offensichtlich spürt keiner diese gute Wirtschaft. Es ist das wichtigste Thema dieser Wahl. 
Auch hier wollen Sie ein System entwickeln, das auf dem basiert, worüber alle sprechen, auf dem auch alle Umfragen basieren. Sie stellen mir immer wieder irrelevante Fragen zu meinen Schlüsseln. Sie müssen sich daran halten, wie die Schlüssel über 160 Jahre hinweg definiert und beantwortet wurden. Ich werde langsam müde und bin geneigt, dieses Interview zu beenden. Es ist sehr widerwärtig.

Der siebte Schlüssel heißt: Major policy change. Wichtige Reformpolitik. An welche Seite vergeben Sie diesen Schlüssel?
Offensichtlich hat es durch Biden große Veränderungen gegeben: Die Rücknahme vieler Trump-Dekrete, das Chip-Gesetz, das Konjunkturprogramm, das Infrastrukturgesetz, sogar ein leicht verschärftes Waffenkontrollgesetz, das Inflations- und Klimawandelgesetz. Dieser Schlüssel geht an die Demokraten.

Wie sieht es mit dem gescheiterten Einwanderungsgesetz aus? Es war ein großes Reformprojekt, das Biden nicht durchsetzen konnte und das ein zentrales Thema dieser Wahl betrifft. 
Ich weiß nicht, was Sie mich da fragen. Es tut mir leid, ich beende das Gespräch.

Der achte Schlüssel lautet: Keine sozialen Unruhen.

Widerlich.

Allan Lichtman beendet das Video-Gespräch.

***

Später schickt Lichtman eine Email, dass er bereit sei, das Gespräch fortzusetzen, wenn man sich auf sein System einlasse, nicht das eigene durchzusetzen versuche; im Wortlaut schreibt er: „I am willing to resume the interview if you let me present the keys as they are defined so I won’t have to keep repeating the same answer that you cannot impose your own system on the Keys. I am available for a retake after 2pm today.“

Lichtman setzt das Gespräch fünf Stunden später fort.

Lichtman: Ich bin es satt, dass Leute mir ihre eigenen Ideen auferlegen wollen – für ein System, dass jahrzehntelang funktioniert hat. Aber ich versuche, etwas versöhnlicher zu sein. 

Ich hinterfrage nicht ihr System. Ich hinterfrage, wie Sie Ihre Kategorien bewerten. Als Journalist möchte ich wissen, aus welchen Gründen Sie Ihre Schlüssel an die jeweilige Seite vergeben. Das ist alles. Lassen Sie uns fortfahren. Schlüssel acht heißt: Keine sozialen Unruhen. Es gab in diesem Jahr große Demonstrationen gegen den Gazakrieg.
Die Definition dieses Schlüssels ist, dass die Unruhen die ganze Gesellschaft betreffen müssen, dass Straßen in Flammen stehen müssen. Es gab kein Chaos bei dem Parteitag, keine sieben Millionen Menschen in den Straßen. Es gibt keine Zweifel: Dieser Schlüssel gehört Harris.

Was Hunde und Katzen im US-Wahlkampf zu suchen haben 7:45

Damit steht es 6:2 für Harris. Schlüssel neun: Es gab keinen großen Skandal im Weißen Haus in den letzten vier Jahren.
Das ist mein Lieblingsschlüssel. Die Republikaner haben alles versucht, um Biden einen Skandal anzuheften, aber es gab keinen. Der Skandal seines Sohnes Hunter zählt nicht. Es muss schon den Präsidenten selbst betreffen.

Aber das hohe Alter hat Biden zur Strecke gebracht. Das ist zwar kein Skandal, aber ein externer Grund, über den er stolperte – einem Skandal ähnlich.
Altersprobleme gab es schon immer, auch bei Ronald Reagan. In diesem Fall hat das Alter tatsächlich zu einem Wechsel bei der Kandidatur geführt, aber es zählt nicht als Skandal.

Es steht also 7:2. Trump müsste alle verbleibenden Schlüssel gewinnen. Schlüssel zehn: Der Kandidat ist außergewöhnlich charismatisch.
Das gilt nur, wenn es sich um einen einzigartig inspirierenden Kandidaten handelt, um eine Ikone von der Art eines Franklin D. Roosevelt. Harris ist das nicht, also ist dieser Schlüssel nicht für die Demokraten zählend.

Barack Obama war auch kein einzigartiger Inspirator?
Nur 2008. 2012 nicht mehr. Da war er Teil der Bubble in Washington. 

Schlüssel elf: Der Herausforderer ist uncharismatisch. Donald Trump mag im engen Sinn kein Charismatiker sein, aber unter Republikanern ist er eine Ikone.
Laut Defintion kann sich diese Popularität nicht nur auf die eigene Basis beziehen, sondern er muss weite Teile des Volkes inspirieren. Trump hat zwei Wahlen im „popular vote“, deutlich verloren, mit zusammengenommen zehn Millionen Stimmen. Er strahlt nicht über den Parteirand hinaus aus. Der Schlüssel geht also an die regierende Partei.

Und damit steht der Sieg fest, 8:3. Die letzten beiden Kategorien lauten – 12: „Keine  außenpolitische oder militärischen Misserfolge“. Und 13: „Große außenpolitische oder militärische Erfolge“.
Die Situation in Gaza ist ein humanitäres Desaster. Die USA ist zwar nicht beteiligt und hat keine Soldaten im Krieg, dennoch sind wir im Mittleren Osten sehr engagiert. Also ein Misserfolg, dieser Schlüssel geht für das Weiße Haus verloren. Andererseits kann die Ukraine als großer Erfolg gelten. Es war Biden allein – und nicht Scholz oder Macron – , der die internationale Koalition zusammenhielt und verhindert hat, dass Putin sich die Ukraine einverleiben konnte. Das wird einmal als großer Erfolg in die Geschichte eingehen.

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Das Endergebnis lautet also 9:4 für Harris. Gar nicht so eng, wie Sie anfangs sagten. 
Ich hatte schon vor Monaten gesagt: Es müsste eine Menge schiefgehen, damit die Demokraten noch verlieren. 

Letzte Frage: Eine „October Surprise“, also etwas ganz Unerwartetes wie 2016 Hillary Clintons angeblicher E-Mail-Skandal, kann den Sieg von Kamala Harris nicht noch verhindern? 
Nochmal für alle Menschen dieser Welt: Der Wahlkampf spielt keine Rolle. Dieses Wettrennen – wer ist heute vorn, wer morgen – ist egal. Ebenso das Geld, die Wahlkampfspenden. Sonst hätte Hillary Clinton mit großem Vorsprung gewinnen müssen. Das Wichtige ist „the big picture“. Nicht der Wahlkampf, sondern das Regieren. Mein System ist sehr robust und basiert auf 160 Jahren Geschichte. Man verändert sein Modell nicht so einfach. Und ich muss eines noch sagen: Ich bin 77, aber bei jeder Prognose habe ich immer noch Schmetterlinge im Bauch.