Was machen wir mit der Kunst, wenn deren Erschaffer moralischen Ansprüchen nicht genügt? Chilly Gonzales befasst sich auf seinem neuen Album mit sogenannter Cancel-Culture. Alles begann mit Wagner.

Was definiert Kunst und darf sie sich dem Kommerz beugen? Und wie umgehen mit Künstlern, die unseren moralischen Ansprüchen nicht (mehr) genügen? Chilly Gonzales betreibt eine Art Nabelschau: Für sein neues Album „Gonzo“, das heute erscheint, hat er sich vieles vom Leib geschrieben, was ihm zu seinem eigenen Schaffen und dem Künstlerdasein im Allgemeinen eingefallen ist. Nach Jahren mit überwiegend Instrumental-Alben ist es inzwischen Zeit für viel Text. 

„The first time that I entertained was the first time that I felt sane“ (auf Deutsch: Das erste Mal, als ich unterhalten habe, war das erste Mal, dass ich mich vernünftig fühlte) – so lautet die von Streicherklängen erste Zeile des Albums, die erste Zeile des Songs „Gonzo“. 

„Ich habe Anfang 2022 wieder angefangen, Texte zu schreiben – und diese waren die Songs, die die meiste Power hatten“, sagt der kanadische Musiker, der inzwischen schon seit Jahren in Köln lebt, der Deutschen Presse-Agentur. „Ich denke dabei nicht an mein Publikum. Ich produziere soviel ich kann, versuche, eine klare Verbindung zu meinem Unterbewusstsein zu haben und folge dann den Texten, wohin auch immer sie mich mitnehmen. In den Entertainer-Modus wechsle ich erst viel später. Da bin ich dann objektiver und überlege, was auf der Bühne funktionieren kann und was nicht“

„Neoclassical Massacre“

Dem künstlerischen Schaffensprozess widmet der 52-jährige Sänger, Pianist, Produzent und Entertainer, der eigentlich Jason Charles Beck heißt, den monumentalsten Song des Albums: „Neoclassical Massacre“, eine gereimte Schimpftirade auf die Künstler, die Musik machen, nur um sich der Algorithmus-Logik von Playlisten anzupassen und so größtmöglichen (kommerziellen) Erfolg zu haben. 

„Die Rolle eines Künstlers ist nicht, den Algorithmus diktieren zu lassen, was wir schaffen – aber den Algorithmus zu unserem Vorteil zu nutzen, wenn wir etwas geschaffen haben“, sagt er im Interview. 

„F*uck Wagner“

Der womöglich prägnanteste, sicher aber provokativste der elf Songs auf dem neuen Album ist „F*ck Wagner“. „Ich bin ja nicht der Erste, der die Aufmerksamkeit auf Wagners hasserfüllte Rhetorik lenkt und es geht bei mir Hand in Hand damit, dass ich ein Fan seiner Musik bin und fasziniert davon, wie dramatisch er sein Leben gelebt hat.“

Seit er ein Teenager war, habe sein Vater ihn der Musik Richard Wagners ausgesetzt, ihn dazu angehalten, die Texte und deren Übersetzung zu lesen und sich einzuprägen und auch bei den Bayreuther Festspielen sei er schon sehr früh in seinem Leben gewesen. 

„Als ich mehr über ihn wusste – eben auch, dass er dieses Buch geschrieben hat, da habe ich meinen Vater, einen jüdischen Mann gefragt: Wie konntest Du ständig seine Musik hören und Deine Kinder in seinen Musiktempel schleppen?“, sagt Chilly Gonzales über Wagner und dessen antisemitische Schriften.

„Und mein Vater sagte: Man muss den Künstler von seiner Kunst trennen. Und das war seither mein Mantra. Durch Wagner ist mir diese Frage zum ersten Mal begegnet: Was machen wir mit Kunst, die wir lieben, die aber von nicht perfekten Menschen geschaffen wurde – oder von Menschen, die sogar in so einem großen Maß nicht perfekt waren, dass wir sie Monster nennen würden?“

Seine Forderung: Tina Turner statt Richard Wagner

Er selbst hat zumindest die Petition gestartet, eine Richard-Wagner-Straße in Köln in Tina-Turner-Straße umzubenennen – auch um auf dieses Spannungsfeld aufmerksam zu machen. 

„Der Grund, warum ich die Kampagne gestartet habe, ist nicht, dass ich woke bin und denke, alle Namen von nicht-perfekten Menschen müssten von Straßenschildern verschwinden. Dann hätten wir gar keine Straßennamen mehr“, sagt er. „Ich bin kein Cancel-Culture-Krieger und sage ganz klar, dass wir weiter Wagners Musik hören sollen. Ich kann zum Beispiel auch nicht aufhören, Kanye Wests Musik zu hören – egal, was ich über seine antisemitischen Statements denke.“