Wulf-Diether Graf zu Castell-Rüdenhausen überflog China, um eine Postverbindung nach Deutschland auszumachen. Der Pilot überlebte diverse Bruchlandungen und machte fantastische Aufnahmen von einem Land, das in Europa noch kaum jemand kannte.
Wäre neben Superman in den 1930ern ein zweiter Superheld erfunden worden, hätte Graf zu Castell eine prima Vorlage dafür abgegeben. Er hatte zwar nicht unbedingt vor, die gesamte Menschheit oder die ganze Welt zu retten, aber er war ein echter „Abenteurer, Pionier und Freigeist“, wie seine Tochter sagt. Gabriele zu Castell hat das aber erst so richtig bemerkt, als ein Mann aus Shanghai sich bei ihr meldete, der zu ihrem Vater forschen und eine Biografie über ihn schreiben wollte. Für ihn ging sie in den Keller ihres Hauses in München und hob wahre Schätze: Tagebücher ihres Vaters, in denen er Notizen zu seinen Flügen gemacht und dafür eine Art Geheimschrift verwendet hatte. Briefe an seine geliebte Frau, Gabrieles Mutter, und Postkarten aus dem Land der Mitte.
Nach seiner Karriere als begnadeter Kunstflieger ließ sich Wulf-Diether Graf zu Castell-Rüdenhausen 1933 bei der Lufthansa anstellen, um für sie einen Postweg zwischen China und Deutschland aufzubauen. Von Junkers-Flugzeugen aus fotografierte er „mit der anderen Hand“ Städte, Landschaften und Berge, Kunstwerke und Flüsse, einfach alles, was ihn unterwegs begeisterte. So entstanden mit den ersten Agfacolor-Farbfotos Unikate, die China-Experte Andreas Tank, der Mann aus Shanghai, in der Biografie des Grafen ausführlich erläutert.
„Wulf-Diether Graf zu Castell – Pionier der Lüfte: Die spektakulären Expeditionen rund um die Welt neu entdeckt“ von Andreas Tank (Autor), Frederking&Thaler Verlag, 256 Seiten, 49,99 Euro, erhältlich bei Amazon, Thalia und Bücher.de
© Frederking&Thaler Verlag
Ob Auslands-, Sonder- oder Geheimeinsätze in Asien, Südamerika und Europa – Castell galt in der Zivilluftfahrt schon früh als Ausnahmetalent. Nach dem Zweiten Weltkrieg heuerte er bei der amerikanischen Besatzungsmacht am Münchner Flughafen Riem an, um aus den Ruinen einen Flughafen von Weltruf zu bauen, den er als Alleingeschäftsführer für Jahrzehnte leitete. Für seinen unermüdlichen Einsatz in der Luftfahrt erhielt er das Bundesverdienstkreuz. Der stern hat mit dem Autor Andreas Tank über das Leben dieses beeindruckenden Mannes gesprochen und ihn gefragt, was ihn zu diesem fantastischen Buch motiviert hat.
Herr Tank, auf einer Infotafel am Rande der Wüste Gobi sind Sie auf Graf zu Castell aufmerksam geworden. Was hat Sie inspiriert, so ein detailgetreues Buch über ihn zu verfassen?
Ich lese gerne Biografien und hatte ein wirklich spannendes Buch über einen Naturforscher gelesen, wo der Autor seinem Protagonisten nachgereist ist. So etwas wollte ich auch machen. Dann kam die Pandemie. Man kam aus China nicht mehr raus, also bin ich dort gereist. Ich kam zu den Gräbern der Westlichen Xia-Dynastie südlich der Gobi und dort hing eine Schwarzweiß-Aufnahme von Graf zu Castell, die mich fasziniert hat. Wer ist dieser beeindruckende Pilot? Ich habe mich auf die Suche gemacht, wollte Bilder von ihm und habe mögliche Quellen angeschrieben. Schließlich habe ich dadurch den Kontakt zu seiner Tochter, Gabriele Gräfin zu Castell, erhalten. Ich habe ihr geschrieben und sie hat prompt geantwortet: „Ich freue mich so, dass Sie so begeistert sind von den Fotos meines Vaters!“ Obwohl sie mich gar nicht kannte, hat sie daraufhin alle Türen geöffnet – zu Museen, den Leica-Eigentümern etc. Und dann bin ich richtig tief in die Recherche eingestiegen.
Was hat Sie persönlich gereizt?
Graf zu Castell ging in seinen 20ern, also in einem jungen Alter, nach China, in die Fremde. Ich ebenfalls. Ich bin in China 25 geworden, ich bin jetzt 20 Jahre hier. Ich sehe ihn vor mir, wie er hier in Shanghai angekommen ist, der Sommer, die Schwüle, diese Menschenmassen und die Lautstärke. Dieser Gedanke: Ich kann hier etwas bewegen, ich kann hier was machen. Und dann hat er gleich eine Bruchlandung hingelegt und ist demütig geworden. Er hat dadurch gleich sehr früh einen gewissen Respekt vor der Aufgabe gelernt. Da existieren unglaublich viele Parallelen, die mich interessiert haben.
Welche Parallelen sehen Sie sonst noch?
Etwa dieses Pionierhafte. Chaos zieht mich an, ich baue dafür gern Strukturen. Ich helfe Firmen dadurch, nach China zu kommen. So war es vor fast 100 Jahren für ihn auch: Es gab keine Flugpläne, die Höhenangaben waren ungenau. Das heißt, diese ganzen Parameter, die Struktur, musste Castell erstellen. An einer Stelle bin ich ihm wirklich enorm nahegekommen: Man wird belohnt für den Mut, aber auch für das Risiko. Also: Man ist allein, ohne Regeln, man schafft ja die Regeln, aber muss sich auch ethisch verhalten. Ich glaube, das ist eine wichtige Voraussetzung. Man muss das, was man macht, aus einem bestimmten Beweggrund machen.
Er hatte offenbar auch große Lust, immer wieder etwas Neues zu machen.
Das ist so ein roter Faden, den man in seinem Leben findet. Er fängt immer wieder von ganz von vorn an, ohne irgendeine Attitüde. Er ist sich für nichts zu schade, obwohl er ja schon früh auf Erfolge zurückblicken konnte.
Graf zu Castell scheint großen technischen Sachverstand sowie eine Hands-on-Mentalität gehabt zu haben. Mit einer Leica umzugehen war für ihn ebenso simpel wie als ganz junger Mann Kunstflüge zu machen. Er hat einige Bruchlandungen überlebt. Hat dafür Glück, sein Verstand oder das Adrenalin gesorgt?
Es gibt diesen schönen Spruch „When the going gets tough, the tough get going“ (etwa: Wenn es hart auf hart kommt, kommen die Harten in Fahrt). Man kommt in eine Tiefenentspannung, wenn um einen herum Chaos herrscht. Das ist eine Typfrage, sie hätten jederzeit gegen eine Bergwand fliegen können, wenn Wolken in den Tälern waren. Es gab sehr viele riskante Situationen. Aber auf der einen Seite kannte er diese Maschine wirklich gut, auf der anderen Seite hatte er ein gutes Gespür für die Topografie und konnte sich gut orientieren. Bei seiner ersten Bruchlandung hat er aber auch viel Glück gehabt. Er behielt einen kühlen Kopf, war einfühlsam und freundlich, sodass ihm viele Menschen, die ihn gar nicht kannten, sofort geholfen haben.
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