Der einzige Linke-Ministerpräsident wird in Thüringen sein Amt abgeben. Doch mindestens bis dahin behält Bodo Ramelow eine Schlüsselfunktion. Überraschungen eindrücklich eingeschlossen.
Am Tag danach klingt Bodo Ramelow recht aufgeräumt am Telefon. Ja, er sei zum Schlafen gekommen, sagt er. Alles gut. Im Übrigen habe er sich schon seit Längerem darauf eingestellt, dass seine inzwischen fast zehnjährige Amtszeit demnächst vorbei sei.
Er sei da ganz gelassen. „Ich werde die Funktion als Ministerpräsident abgeben, aber nicht, um eine andere Funktion in einer Landesregierung zu übernehmen“, sagt er. CDU-Landeschef Mario Voigt besitze jetzt den Regierungsauftrag.
War es das also, für den ersten, einzigen und vorerst letzten linken Regierungschef Deutschlands?
Von wegen. Obwohl die Linke bei der Landtagswahl am Sonntag von 31 Prozent auf 13,1 Prozent einstürzte, strotzt Ramelow vor Selbstbewusstsein. So sagt er etwa: „Auch wenn meine Partei aufgrund äußerer Umstände verloren hat, so bin ich doch der einzige Spitzenkandidat, der seinen Wahlkreis direkt gewonnen hat.“ Und natürlich werde er das Mandat in vollem Umfang ausüben. „Das bin ich meinen Wählern schuldig.“
Rente mit 68? Nicht mit Ramelow.
Und da ist noch mehr. Die Linkspartei befindet sich trotz ihrer Niederlage in Thüringen in einer Schlüsselrolle. Denn die von der CDU erhoffte Koalition mit dem Bündnis Sahra Wagenknecht und der SPD kommt mit 44 Stimmen im Landtag auf keine Mehrheit. Denn AfD und Linke besitzen gemeinsam ebenso viele Mandate.
Das im politischen Patt gefangene Parlament
Das neue Parlament scheint im politischen Patt gefangen. Und vor allem ein Mann könnte es auflösen: Bodo Ramelow. Zum einen ist er ja noch Ministerpräsident und bleibt geschäftsführend im Amt, bis ein Nachfolger gewählt ist – ganz egal, wie lange das dauern mag. Zum anderen hat er im Landtag eine Stimme. Und eine einzige Stimme könnte einer Regierung zur Mehrheit verhelfen.
„Ich weiß, dass es jetzt auf mich ankommen wird“, sagt Ramelow. „Thüringen braucht schnell eine stabile Mehrheitsregierung jenseits der AfD, und wir müssen dafür alle denkbaren Lösungen nutzen.“ Er sei sich, fügt er hinzu, seiner staatsbürgerlichen Verantwortung „sehr bewusst“. Dabei werde er „in jeder Minute“ versuchen, seine Abgeordnetenkollegen in der Fraktion mitzunehmen.
Ramelow hat seine Partei schon oft düpiert
Wer Ramelow kennt, weiß: Mit „alle denkbaren Lösungen“ meint er wirklich „alle denkbaren Lösungen“. Das impliziert auch einen möglichen Alleingang, falls ihm Partei und Fraktionen nicht folgen oder die CDU sich vor einer Linke-Tolerierung ziert. Er könnte Voigt seine Stimme versprechen oder im Extremfalls als fraktionsloser Abgeordneter eine CDU-BSW-SPD-Koalition stützen.
Um zu verstehen, dass dies reale Möglichkeiten sind, ist ein kurzer Blick in die jüngere Landesgeschichte nötig. Denn Ramelow war schon immer für Überraschungen gut. Als er etwa 2009 erstmals als Spitzenkandidat ein rot-rot-grünes Bündnis sondierte, wollte ihn die SPD trotz des stärkeren Linke-Ergebnisses nicht als Ministerpräsident akzeptieren. Was machte Ramelow? Er verzichtete zur Empörung der Parteispitze in Berlin auf seinen Anspruch auf die Staatskanzlei.
Die SPD entschied sich trotzdem für die CDU unter Christine Lieberknecht, die trotz stabiler Mehrheit bei der Ministerpräsidentenwahl zweifach scheiterte. Und was machte Ramelow? Als persönlicher Freund der Christdemokratin griff er hilfreich ein: Indem er sich als Gegenkandidat bewarb, besorgte er ihr im dritten Wahlgang eine überwältigende Mehrheit, die das Gesicht der künftigen Regierungschefin wahrte.
Dass er nebenbei im Zentrum der allgemeinen Aufmerksamkeit stand, war von ihm natürlich eingepreist. So sehr er gelegentlich und publikumswirksam unter der Bürde seiner Verantwortung leidet, so sehr genießt er es auch, als öffentlich wahrgenommener Macher zu erscheinen.
Das Manöver mit Lieberknecht
So war es auch im thüringischen Chaos-Winter 2020. Nachdem statt Ramelow ein gewisser Thomas Kemmerich von CDU, AfD und FDP zum Ministerpräsidenten gewählt worden und wieder zurückgetreten war, tat sich die CDU schwer, Ramelow zurück ins Amt zu wählen. Also rief Ramelow seine Vertraute Lieberknecht an und überredete sie, als Übergangsregierungschefin bis zu schnellen Neuwahlen bereit zu stehen. Die Union wurde von dem Manöver kalt erwischt: Weil sie angesichts desaströser Umfragen auf keinen Fall sofort das Parlament auflösen wollte, machte sie nach einigem Hin und Her den Weg für Ramelow frei.
Es ließen sich noch mehr solcher Beispiele aufzählen, etwa die Wahl eines AfD-Vizelandtagspräsidenten durch Ramelow oder seine Zusage im Bundesrat zur Pkw-Maut: Ramelow denkt und handelt außerhalb der üblichen Schemata. Dabei überraschte er gerne alle und vergrätzte oft genug seine eigene Partei.
Bodo Ramelow: „Mehrheit gegen die Faschisten nutzen“
Deshalb besitzt es auch eine besondere Bedeutung, wenn Ramelow jetzt sagt: „Ich werde alles, wirklich alles dafür tun, dass die demokratischen Parteien ihre Mehrheit gegen die Faschisten nutzen – bei der Wahl zum Landtagspräsidenten, aber auch bei der Wahl meines Nachfolgers im Amt des Ministerpräsidenten.“
Er gegen Björn Höcke: Das ist die Rolle, in der er sich immer noch sieht.
Tatsächlich wird die erste Probe für eine Mehrheit jenseits der AfD die Wahl des Parlamentspräsidenten liefern. Die Konstituierung des neuen Landtags muss laut Verfassung zum 1. Oktober stattfinden – und die AfD besitzt nicht nur das Vorschlagsrecht als stärkste Fraktion, sondern stellt auch den Alterspräsidenten, der die geheime Wahl leiten wird. Umso wichtiger ist es für Ramelow, „dass sich alle demokratischen Parteien vorher einig sind, einen rechtsextremistischen Landtagspräsidenten zu verhindern“. Denn dessen Macht ginge weit über repräsentative Funktionen hinaus.
Ramelow, der lange Fraktionschef im Landtag war, weiß genau, von was er redet. Zum Beispiel wird es die Aufgabe eines Parlamentspräsidenten sein, die spätere Wahl eines Ministerpräsidenten zu leiten. Ihm obliegt dann auch die Auslegung des umstrittenen Passus in der Verfassung, laut dem in einem dritten Wahlgang „die meisten Stimmen“ reichen, um einen Regierungschef zu bestimmen. Nach verfassungsrechtlicher Mehrheitsmeinung würden dann die Nein-Stimmen nicht zählen.
Genau das ist das Szenario, auf das die AfD hinsteuert. Ramelow hingegen sieht sich, und das ist bei ihm keine Übertreibung, in einer Art antifaschistischem Widerstand. Dafür sind ihm, um das zentrale Zitat zu wiederholen, „alle denkbaren Lösungen“ recht. Zur Bekräftigung zitiert er den Christdemokraten Bernhard Vogel, der einst Thüringen mit absoluter Mehrheit regierte: „Erst das Land, dann die Partei, dann die Person.“