„Ein anderes Land“ und „der Keim des Putinismus“: Die internationale Presse blickt voller Sorgen auf die Ergebnisse der Landtagswahlen in Thüringen und Sachsen.

Niedergang der Ampelparteien, Triumph der Populisten. Der Wahlabend von Thüringen und Sachsen wird als Zäsur der politischen Verhältnisse in Deutschland gewertet. Auch aus dem Ausland blickt man in den Osten der Bundesrepublik – und ist mitunter erschrocken. Die internationalen Pressestimmen zu den Landtagswahlen.

Internationale Pressestimmen zu den Landtagswahlen

„Corriere della Sera“ (Rom): „Aus dem Wirbelsturm der beiden Landtagswahlen geht ein anderes Land hervor, ein anderes Deutschland. In Erfurt und Dresden vertraut eine Mehrheit der Bevölkerung ihre Enttäuschungen und Frustrationen zwei populistischen Parteien an, der nationalistischen und fremdenfeindlichen Ultra-Rechtspartei AfD sowie der neo-peronistischen Hybridpartei BSW, der politischen Kreatur von Sahra Wagenknecht, die prorussischen Pazifismus, wirtschaftlichen Statismus und harte Anti-Einwanderungspolitik miteinander verbindet. Das Ergebnis bestätigt, dass 34 Jahre nach der Wiedervereinigung und Tausender Milliarden Euro, die in die ehemalige DDR investiert wurden, eine Mehrheit der Bevölkerung in den beiden Bundesländern keine Loyalitätsbindungen zu den traditionellen Parteien hat. Deren Entscheidungen akzeptieren sie nicht, deren Codes verstehen sie nicht, vielleicht teilen sie nicht einmal deren Konzept der Demokratie. Sie fühlen sich als Deutsche zweiter Klasse oder, schlimmer noch, als Ausländer in ihrer Heimat.“

Wahlreportage Erfurt 22:04

„La Stampa“ (Rom): „Wenn zu Thüringen und Sachsen am 22. September auch noch Brandenburg hinzukommt, ein traditionell sozialdemokratisches Bundesland, wird es für Olaf Scholz schwierig, die therapeutische Verbissenheit fortzusetzen, um im Kanzleramt zu überleben. Betroffen ist das Herz der europäischen Integration: Wie sollen angesichts eines Frankreichs, das noch immer nach einer Regierung sucht, und eines Deutschlands mit zerrütteten Mehrheitsverhältnissen die Vereinbarungen gestaltet werden, die in der Vergangenheit die größten Fortschritte in der europäischen Politik gebracht haben? Dass Ursula von der Leyen in ihrer Rolle als Präsidentin der EU-Kommission mehr sein könnte als eine Bastion des Widerstands gegen rechte Vorstöße und die Brüchigkeit ihrer eigenen Regierung, ist schwer vorstellbar. Stattdessen sieht nun Wladimir Putin seine fünfte Kolonne im Osten Deutschlands gestärkt.“

„La Repubblica“ (Rom): „Während sich der alte Kontinent auf dem schmalen Grat eines möglichen Kriegs und eines Infarkts der Demokratie bewegt, muss er sich zugleich mit einem inneren Feind auseinandersetzen. Die europäischen institutionellen Systeme sind infiltriert. In Italien, in Frankreich und nun immer unverhohlener in Deutschland. Der Keim des Putinismus wächst sogar in strukturierten Ländern mit einer soliden demokratischen Tradition. Was in den beiden deutschen Regionen geschehen ist, ist der jüngste Beweis. Der Kreml hat jetzt seine Wortführer im Herzen Europas. Russlands Präsident hat einen außergewöhnlichen und beunruhigenden politischen Sieg errungen. Die ‚faschistische‘ rechte AfD und die nostalgische Linke sind zusammen mit anderen europäischen Formationen wie dem Rassemblement National in Frankreich oder der Lega in Italien seine Vorposten in der EU. Die Verantwortungslosigkeit gegenüber dem Krieg in der Ukraine wird durch ein scheinbares Streben nach Frieden kaschiert.“

Meinung Wahl Gregor 6.07

„The Guardian“ (London): „Die rechtsextreme, einwanderungsfeindliche Alternative für Deutschland reitet auf einer populistischen Welle durch Europas größte Volkswirtschaft. Wenn morgen Bundestagswahlen wären, könnte die Partei Umfragen zufolge die zweitstärkste Fraktion im Bundestag stellen. Doch nur im Osten kann die AfD für sich in Anspruch nehmen, ein Mandat für die Bildung einer Landesregierung zu haben, wie es ihr thüringischer Vorsitzender Björn Höcke bereits getan hat, nachdem seine Partei zum ersten Mal überhaupt als Sieger aus einer Landtagswahl hervorgegangen war. (…) Solange es den übrigen Parteien gelingt, den Cordon sanitaire um die Rechtsextremen aufrechtzuerhalten und sie daran zu hindern, eine absolute Mehrheit zu erlangen, werden ihre Machtambitionen wohl nur Wunschträume bleiben. Dennoch wirft die Etablierung der AfD als dominante regionale Kraft ernste und beunruhigende Fragen über die politische Identität Deutschlands und darüber auf, wie der Aufstieg solcher Kräfte in Zukunft eingedämmt werden kann.“

„Financial Times“ (London): „Die Ergebnisse spiegeln die wachsende Frustration in Ostdeutschland über eine Regierung wider, die viele mit hoher Inflation, wirtschaftlicher Stagnation, steigenden Energiekosten und ständigen internen Streitigkeiten assoziieren. Sie zeigen aber auch, dass die Wähler zunehmend die Mitte zugunsten populistischer Parteien an den politischen Rändern verlassen. (…) Es hat sich gezeigt, dass 34 Jahre nach der deutschen Wiedervereinigung eine Mehrheit der Menschen in zwei Regionen des ehemals kommunistischen Ostens des Landes enttäuscht sind von den etablierten Parteien der Mitte und frustriert sind von der Art und Weise, wie Deutschland regiert wird.“

„El Mundo“ (Madrid): „Die Wahlergebnisse in den Bundesländern Thüringen und Sachsen – mit der rechtsextremen Alternative für Deutschland (AfD) auf dem ersten bzw. zweiten Platz – offenbaren ein Szenario des realen politischen Zusammenbruchs in dem Land, das traditionell an der Spitze der europäischen Wirtschaft steht. Die Zunahme extremistischer und einwanderungsfeindlicher Diskurse, die bereits bei den Europawahlen zu beobachten war, stellt eine ernsthafte Bedrohung für das europäische Projekt dar und macht es notwendig, die Debatte vernünftig und intelligent zu führen. (…) Diese Wahlen fanden nur eine Woche nach dem Terroranschlag von Solingen statt, der den einwanderungsfeindlichen Diskurs anheizte. Aber die Umfragen hatten bereits seit Monaten einen Anstieg der Rechtsextremisten gezeigt. Das Debakel der Sozialdemokratie und die Kehrtwende der christdemokratischen CDU in der Einwanderungspolitik (…) bestätigen einen Paradigmenwechsel, der alle EU-Länder mehr oder weniger stark betrifft. Die Auseinandersetzung mit denjenigen, die die Zuwanderung instrumentalisieren, ohne dass man in vereinfachende Positionen verfällt, ist bereits eine der größten Herausforderungen für alle westlichen demokratischen Kräfte.“

Höcke ARD 7.55

„Wall Street Journal“ (New York): „Die Ergebnisse der Parlamentswahlen in Sachsen und Thüringen am Sonntag (…) sorgen für weitere Bestürzung auf einem Kontinent, der bereits durch den Niedergang der traditionellen Parteien und den Aufstieg der Aufständischen verunsichert ist. (…) Das größere Problem ist, was der gemeinsame Aufstieg der AfD und der BSW über den Kollaps der Regierungsparteien in Deutschland aussagt. (…) Es bestätigt, was nationale Umfragen schon seit einem Jahr oder länger sagen: Die Wähler haben die Nase voll von Olaf Scholz und einer Koalition, die Migration nicht steuern kann und sich trotz des greifbaren und wachsenden wirtschaftlichen Schadens an Klimazielen festklammert. Damit bleiben als einzige Mainstream-Alternative zu den Aufständischen nur noch die Christdemokraten (die CDU und Bayerns CSU). Man darf es den deutschen Wählern nicht vorwerfen, keine Geduld mehr mit ihren dysfunktionalen Regierungsparteien zu haben. Man sollte den Vorwurf den etablierten Politikern machen, die zu langsam sind und Nabelschau betreiben, während der Frust der Wähler steigt.“

„Der Standard“ (Wien): „Lägen Thüringen und Sachsen im Westen oder wäre am Sonntag in einem westdeutschen Bundesland abgestimmt worden – das Ergebnis für die Ampel hätte wohl auch nicht sehr viel besser ausgesehen. Die Koalition in Berlin gibt ein trauriges Bild ab. Man ist fertig miteinander, zusammen hält das unattraktive Dreierbündnis nur noch die Angst vor den Wählerinnen und Wählern. Und dann passierte kurz vor den Wahlen auch noch der schreckliche Anschlag von Solingen. Er legte nicht nur tatsächliche Versäumnisse offen, sondern auch Emotionen, die weder Ex-Kanzlerin Angela Merkel noch ihr Nachfolger Olaf Scholz begriffen haben: Die Menschen haben Angst. Gegen die Furcht kommen die Zahlen, Fakten und Beteuerungen des Kanzlers immer weniger an. Wie Scholz aus diesem Dilemma herauskommen will, wie er wieder Vertrauen gewinnen will, ist unklar. Deutschland erlebt gerade düstere Zeiten. Nach diesen beiden Wahlen wird der Weg nicht leichter.“

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„Neue Zürcher Zeitung“ (Zürich): „Das Debakel zeigt, wie sehr sich das Ansehen des Kabinetts von Kanzler Olaf Scholz im freien Fall befindet. Der Triumph der AfD belegt, dass viele Wähler sich weder von den Berichten des Inlandsgeheimdienstes noch von den Warnungen der politischen Konkurrenz oder von besorgten Leitartiklern beeindrucken lassen. Die AfD ist – trotz oder wegen ihres ressentimentgeladenen Landeschefs Höcke – die bestimmende Kraft im Osten. Eine Politik, die die Mitte der Bevölkerung aus den Augen verliert, darf sich nicht wundern, wenn die Ränder erstarken. Und von einer „Brandmauer“ kann jene Partei am stärksten profitieren, deretwegen diese errichtet wurde.“

„Tages-Anzeiger“ (Zürich): „Beiden (AfD und BSW; Anm. d. Red.) ist es gelungen, den Unmut über die Regierung in Berlin auf ihre Mühlen zu lenken – besser jedenfalls als der wichtigsten Oppositionspartei in Deutschland, der CDU. Dennoch gehört auch sie zu den Siegern. Anders als die AfD, die in ihrem Extremismus isoliert bleibt, ist die CDU die letzte Partei der breiten Mitte, um die herum sich in solch konservativen Landstrichen überhaupt noch Regierungen bilden können: In Sachsen behauptet sich Ministerpräsident Michael Kretschmer gegen die AfD, in Thüringen winkt Mario Voigt die Staatskanzlei – schwierige Koalitionsverhandlungen vorbehalten. Für die SPD, die Kanzlerpartei, fällt der erste Wahltag im Osten rabenschwarz aus. Gehen die Sozialdemokraten in drei Wochen auch in Brandenburg unter und verliert ihr Ministerpräsident Dietmar Woidke dort seine Macht, wackelt auch Kanzler Olaf Scholz. In Hinblick auf die Bundestagswahlen in einem Jahr ist eine Revolte der Partei gegen ihn dann nicht mehr auszuschließen.“