Überall im Land fieberten die Engländer zum EM-Finale mit ihrer Nationalmannschaft mit. Der stern war in einem Pub in London dabei – wo die Stimmung zunächst einmal prächtig war.

Die Sterne standen dieses Jahr günstig für die Briten. Erst eine Woche zuvor hatten sie die Tories aus der Regierung gefegt und mit Keir Starmer erstmals seit Harold Wilson einen echten, leidenschaftlichen Fußball-Fan zum Premierminister gewählt. Der war zum Finale extra nach Berlin gereist, auch Prinz William und Sohn George saßen als Talismane der Engländer im Olympia-Stadion. Vor allem aber hatte Honey, eine im Tierschutzgebiet Eynsford lebende Eule, den Sieg der Engländer über Spanien vorausgesagt, so berichtete das Boulevardblatt „The Sun on Sunday“ gewichtig. Honey nämlich habe wahrsagerische Fähigkeiten, versicherte der Direktor des Reservats der Zeitung. „Leider konnte sie uns nicht sagen, ob es wieder eine Zitterpartie werden wird.“

Mit Zitterpartien hatten die Engländer ihre Fans in diesem Turnier von Anfang an gequält. Dass die Mannschaft es überhaupt bis ins Finale geschafft hatte, war zum einen ihrem Trainer Gareth Southgate und zum zweiten einer gehörigen Portion Glück zu verdanken. Vermutlich hatte nicht einmal Londons Bürgermeister Sadiq Khan damit gerechnet, dass die Engländer in ihrer derzeitigen Form so weit kommen würden, sonst hätte er wie in den vergangenen Jahren Monitore im Hyde Park oder am Trafalgar Square aufstellen lassen. Mangels dieser Fan-Zonen blieb Londons Fußballfans am Sonntagabend nur der Besuch jener Pubs, die das Spiel übertrugen. Die waren ausnahmslos voll und komplett ausgebucht.

Viel Bier und Roséwein mit Strohhalm

Diesmal allerdings, diesmal würde alles anders werden, sagen Hope, Grace, Chloe und Ellie. Letztere heißt obendrein mit Nachnamen Southgate. „Yeah, Southgate!“, jubeln ihre Freundinnen wie auf Kommando. Die jungen Frauen sind zusammen zum Pub „The White Hart“ in Stoke Newington gekommen. Der Stadtteil grenzt an Walthamstow an, wo England-Teamkapitän Harry Kane aufwuchs, und an Haringey, wo er lange für den Erstligisten Tottenham Hotspurs spielte. „Klar, die Spanier sind ein fantastisches Team“, sagt Hope, deren Name übersetzt „Hoffnung“ heißt, „aber wir glauben an England.“ Sie teilen sich einen Zwei-Liter-Krug Bier. Am Nebentisch trinkt eine Frau den Roséwein gleich mit dem Strohhalm aus der Flasche. Es sind noch 30 Minuten bis zum Spielbeginn.

Hope, Grace, Chloe und Ellie, die mit Nachnamen tatsächlich Southgate heißt
© Dagmar Seeland

21.169 Tage ist es her, dass die Briten zum letzten Mal ein internationales Fußballturnier gewannen. „Ist Ihnen schon mal aufgefallen“, spöttelte Premier Harold Wilson nach dem WM-Sieg der Engländer 1966 gegen Deutschland, „dass wir nur unter einer Labour-Regierung im Fußball gewinnen?“ Er sollte mehr recht behalten, als ihm lieb war: Seither starb die Hoffnung immer wieder in letzter Minute, meistens beim Elfmeterschießen.

Auch deshalb ist der große Biergarten des „The White Hart“ bis auf den letzten Stehplatz voll, der Dresscode rot-weiß. Als die spanische Nationalmannschaft vorgestellt wird, gibt es ein paar Buhrufe, doch sie sind nicht ernst gemeint. „Bist du überhaupt schon alt genug zum Fußballspielen?“ ruft einer, als Spaniens Wunderkind Lamine Yamal auf dem Bildschirm zu sehen ist. Dann geht es los. 

„Southgate, you’re the one“

Jedem objektiven Spielbeobachter wird schnell klar, dass die Engländer wenig Chancen haben gegen die Spanier. Anfangs springen die Fans noch aufgeregt von den Bänken auf, wenn ein Engländer es schafft, den Spaniern kurz den Ball wegzunehmen, doch das hört bald auf. Immerhin: zur Halbzeit steht es noch 0:0, und die Hoffnung stirbt bekanntlich zuletzt. „Ich glaube an uns“, sagt James, er ist aus Essex angereist und hier mit einer Gruppe alter Schulfreunde. Jemand stimmt „Southgate, you’re the one“ an, und bald singt der ganze Biergarten mit. Es folgen „Delilah“ und „Hey Jude“, das Repertoire der England-Fans ist bekanntlich groß. 

Dann beginnt die zweite Halbzeit, und endlich wird es spannend. In der 47. Spielminute fällt das erste Tor der Spanier. Lange Gesichter im Publikum. Dann, viel später, der Ausgleich durch Palmer, und ein kleines Beben im Biergarten. „Ich hab’s doch gesagt!“ schreit James und verschüttet vor Freude sein Bier. Mehr „Delilah“. Und mehr Bier. 

Jubel im Biergarten des Pubs nach dem Tor von Palmer für England
© Dagmar Seeland

Der britischen Moral hätte ein Sieg im EM-Finale gut getan

Die Euphorie währt nicht lang: In der 90. Minute fällt das zweite spanische Tor. Die Stimmung schlägt in Verzweiflung um. Nur ein Tisch jubelt. Spanier. Dann ist alles vorbei. Keine Siegesparty in London nächste Woche, kein zusätzlicher Feiertag. 

EM-Finale im Pub „The White Hart“ in Stoke Newington: Nach der Euphorie kam die Verzweiflung.
© Dagmar Seeland

Vermutlich ist das gut so, denn die britische Wirtschaft braucht dringend Aufwind; doch der Moral der Nation hätte ein Sieg wohlgetan. Am Ende aber kam alles genau wie erwartet und die Engländer wurden auf den Boden der Tatsachen zurückgeholt.

Die Fans hier nehmen die Niederlage mit Würde hin. Man trifft sich wieder am Kebab-Stand nebenan. Eine junge Frau sagt, sie möge Deutschland, „wegen Jürgen Klopp“. Sie kommt aus Liverpool. 

Die alten Rivalitäten sind auch nicht mehr das, was sie einmal waren.