Eine Art Anti-Woke-Welle geht durch viele US-Konzerne. Der Geschäftsführer der Charta der Vielfalt fordert deutsche Unternehmen auf, ihre Mitarbeiter zu sensibilisieren.

Capital: Herr Younosi, in den USA rücken immer mehr Unternehmen von ihren Nachhaltigkeits- und Diversifikationsregeln ab. Was treibt Konzerne wie Meta, McDonald’s, JP Morgan, Walmart, Ford, Harley Davidson und den Landmaschinenhersteller John Deere dazu?
CAWA YOUNOSI: Als Erstes sorgte Harley Davidson vor ein paar Monaten für Aufsehen. Der Motorradhersteller hatte den Zorn von rechtspopulistischen Influencern auf sich gezogen und schraubte wohl aus Angst vor Kundenboykotten und Umsatzeinbruch seine Diversitätsrichtlinien zurück. Danach kamen andere, die sich vor allem auf eine Entscheidung des Obersten Gerichtshof der USA im Sommer 2023 berufen haben. Das Urteil hatte eine Quotenregelung nach Ethnien für verfassungswidrig erklärt. Das bezog sich zwar auf die Zulassung an Unis und Colleges, doch einige Unternehmen folgten diesem Diktum freiwillig, vielleicht um sich vor Rechtsrisiken zu schützen. Dagegen stehen Konzerne wie Apple oder Microsoft weiterhin zu ihren Diversitätsregeln. Deshalb habe ich den Eindruck, dass sich manche Unternehmen freiwillig gleichschalten. Das ist aber eine Minderheit.Bio Cawa Younosi

Der US-Aktivist und Influencer Robby Starbuck brüstet sich damit, dass er im vergangenen Jahr 17 US-Unternehmen dazu gebracht habe, ihre Diversitätsregeln zurückzufahren. In einem Interview mit der „FAZ“ kündigte er an, dass er sich für dieses Jahr mindestens doppelt so viele Unternehmen vorgenommen habe. Baut sich da also doch eine größere Bewegung auf?
Das ist derzeit auf den US-Markt beschränkt. Ein Werteverfall in Politik und Gesellschaft hat sich dort abgezeichnet, aber die Geschwindigkeit, mit der das in die Führungskreise der Unternehmen schwappt, hat mich tatsächlich überrascht. Erst haben ein paar Unternehmen die Quoten für Ethnien in der Belegschaft abgeschafft, dann haben sich einige von Nachhaltigkeitszielen oder Lieferkettenverpflichtungen verabschiedet, andere streichen Inklusionsschulungen für Mitarbeiter. Und Meta-Chef Mark Zuckerberg hat gleich die ganze Abteilung für Diversität, Umwelt und Soziales im Konzern aufgelöst. Das ist der bislang radikalste Vorstoß. Der Einfluss von populistischen und rechtsradikalen Aktivisten und Influencern nimmt zwar auch in Deutschland zu. Aber ich sehe keine Gefahr, dass wir hier eine ideologisch getriebene Trendwende sehen und dass sich deutsche Unternehmen von ihrer Haltung und Verantwortung abbringen lassen. 

Aber die Debatten über die Anti-Wokeness-Bewegung werden doch auch hier geführt. Das wird doch nicht an den Unternehmen vorbeigehen. Wie woke können und wollen deutsche Manager sein?
Ich bin in den letzten Wochen quer durch Deutschland gereist, habe in meiner neuen Rolle als Geschäftsführer der Charta der Vielfalt Unternehmen besucht und mit Vorständen gesprochen. Die schauen mit Sorge auf die USA und die Agitation von Donald Trump und von Tech-Bossen wie Elon Musk und Mark Zuckerberg. Aber die Manager, die ich in Deutschland spreche, stehen alle fest zu ihrem vor Jahren eingeschlagenen Diversitätskurs. Ich kenne keinen, der davon abrückt. Die Mitgliedsunternehmen unserer Organisation und die 6000 Unterzeichner unserer Diversitätspräambel stehen für Gleichberechtigung und Menschlichkeit ein. Allerdings weiß ich auch, dass das Thema gerade keine hohe Priorität im Management hat, sondern andere Themen im Fokus stehen: die wirtschaftliche Entwicklung Deutschlands, die Umsatz- und Kostenentwicklung der Unternehmen und die Arbeitsplatzsicherheit.

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Aber zeigt sich nicht auch in wirtschaftlich schwierigen Zeiten und unter Druck, wer Chancengleichheit, gute Arbeitsbedingungen und Umweltschutz wirklich ernsthaft betreibt und nicht nur als Feigenblättchen vor sich herträgt?
Diversität ist keine Ideologie, sondern die Haltung, andere Menschen fair und respektvoll zu behandeln. Diese Grundhaltung sehe ich in der deutschen Wirtschaft. Vielleicht stellen die Unternehmen ihre Initiativen derzeit nicht so offensiv nach außen dar, weil das Kernthema derzeit Transformation, Effizienzsteigerung und bei einigen auch Personalabbau ist und diese Themen die volle Aufmerksamkeit beanspruchen. Aber intern halten die Unternehmen in Deutschland an ihren Initiativen und Programmen fest. Wir haben im November eine Konferenz veranstaltet, an der rund 500 Diversity-Verantwortliche aus Unternehmen teilgenommen haben. Die haben alle Programme in ihren Firmen aufgebaut, mit Schwerpunkt auf Gender, zunehmend spielt aber auch das Thema soziale Herkunft, Alter, mentale Gesundheit und Lerninitiativen eine größere Rolle. Wenn in den Unternehmen an den Diversity-Programmen gekürzt wird, dann wegen umfassender Sparprogramme in allen Bereichen, aber nicht aus strategischen oder ideologischen Gründen. 

Was raten Sie Unternehmen, die derzeit vollauf mit der Konjunkturkrise und den unsicheren politischen Rahmenbedingungen beschäftigt sind? 
lch sage den Managern und Unternehmern, wie wichtig es gerade in der aktuellen Lage und vor den Wahlen ist, das Thema Populismus im Betrieb aktiv anzusprechen. Der Arbeitsplatz ist eine Chance, um Menschen zu erreichen und sie für Werte wie Diversität und Demokratie zu sensibilisieren. Arbeitgeber können die Themen bei Betriebsversammlungen platzieren und diskutieren, ohne parteipolitisch zu werden. Am Arbeitsplatz herrscht ein zivilisierteres Klima als in den sozialen Medien.STERN 50_23 Woke ABC

Wie kann so eine Schulung konkret aussehen?
Dort können aktuelle Debatten aufgegriffen und konkret runtergebrochen werden: Was würde es für unseren Betrieb bedeuten, wenn Deutschland aus der EU ausscheiden würden? Oder: Was bedeutet es für unsere Firma, wenn wir eine migrationsfeindliche Haltung haben? Dann wird nicht abstrakt über irgendwelche Migranten gesprochen, sondern da diskutieren Thomas und Laura gemeinsam mit Fatma und Mehmet an einem Tisch oder in einer Videokonferenz. Meine Hoffnung ist, dass Unternehmensvertreter ihre Kollegen viel besser erreichen als Politiker. Umfragen zeigen zumindest, dass Arbeitnehmer ein höheres Vertrauen zu ihren Arbeitgebern haben als zu Politikern. Unsere Organisation unterstützt Unternehmen dabei auch nicht nur mit Appellen, sondern mit zahlreichen Veranstaltungen. Die Zeit sollten sich verantwortliche Führungskräfte nehmen, wenn wir nicht wollen, dass Rechtspopulisten die Agenda bestimmen. 

Demokratieförderung und politische Diskurse sehen viele Führungskräfte vermutlich nicht als ihre Aufgabe an. 
Ich verstehe die Berührungsängste der Manager und der Personalabteilungen. Es gehört nicht zum Tagesgeschäft, politische Diskurse im Betrieb zu führen. Aber ich glaube, dass wir dieses Potenzial des Arbeitsplatzes nutzen sollten, um einen Beitrag zur Demokratiestärkung und Bildung zu leisten. Wir werden da selbst auch einen Beitrag leisten und in den nächsten Tagen mit mehreren zivilgesellschaftlichen Organisationen wie der Allbright-Stiftung oder UHLALA-Group eine Kampagne starten, mit der Botschaft „Demokratie kann man abwählen. Das hatten wir schon einmal“. Wir wollen die Menschen dazu aufrufen, Demokratie für nicht selbstverständlich zu nehmen und sich bewusst zu sein, dass auch Wahlverhalten mittelbar zur Abschaffung von Demokratie führen kann.

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