Vor 35 Jahren stürmten Tausende die Zentrale der DDR-Staatssicherheit in Berlin. Für viele ein historischer Moment und ein Akt der Genugtuung. Und zugleich Keim des Streits bis heute.
Das Flugblatt hatte Ralf Drescher in einer Kirche eingesteckt. „Wehrt euch! Geht auf die Straße!“, stand auf dem handgedruckten Zettel. Montag, 15. Januar 1990, 17.00 Uhr. „Da war für mich klar: Da gehst du hin“, erinnert sich der Fotograf. Und so stand er an jenem Wintertag in der Menge am Stahltor der Zentrale der Staatssicherheit in Berlin-Lichtenberg und erlebte einen entscheidenden Moment der friedlichen Revolution in der DDR.
Von hinten drängelten sie, vorn kletterten die ersten auf das Tor, kappten Kabel an Überwachungskameras, reckten Fäuste. „Stasi raus“, brüllten einige. „Macht das Tor auf“. Und tatsächlich: Die Stahlflügel bewegten sich. Massen strömten von der Ruschestraße auf das riesige Stasi-Gelände. Das Volk übernahm den verhassten Geheimdienst. Zumindest symbolisch, zumindest für ein paar Stunden im wilden Wendewinter vor 35 Jahren.
„Das hatte damals eine ungeheuer große und positive psychologische Wirkung“, sagt der Historiker Stefan Wolle, der bei der Besetzung dabei war. „Das kann man gar nicht hoch genug einschätzen.“ Die Aktion half, 111 Regalkilometer Stasi-Akten für die Aufarbeitung der SED-Diktatur zu sichern. Nach Angaben des Bundesarchivs war es weltweit die erste umfassende Öffnung von Akten einer Geheimpolizei. Für viele eine Genugtuung, für andere eine Zumutung. Bis heute reißt das Stasi-Erbe tiefe Gräben, auch zwischen Ost und West.
„Die Regierung nimmt das Volk nicht ernst“
Nach dem Mauerfall vom 9. November 1989 taumelte der von der Einheitspartei SED beherrschte Staat schon seinem Ende entgegen. Am Runden Tisch redete die DDR-Opposition mit. Die Stasi, die jahrzehntelang mit Zehntausenden offiziellen und inoffiziellen Mitarbeitern Bürger bespitzelt und drangsaliert hatte, hieß nun Amt für Nationale Sicherheit. Die Auflösung war angekündigt. Doch als Ende 1989 eine Debatte über einen neuen „Verfassungsschutz“ der DDR und über die Vernichtung von Akten Fahrt aufnahm, schlugen Oppositionelle Alarm.
„Die Regierung nimmt den Runden Tisch und damit das Volk nicht ernst“, steht auf dem vergilbten Flugblatt der Bürgerbewegung Neues Forum, das Ralf Drescher bis heute aufbewahrt. „Die SED fühlt sich wieder mächtig, die Stasi wird ‚Verfassungsschutz‚, in den Betrieben ist alles beim Alten.“ Die Bürgerrechtler wollten sich ihre Revolution nicht zurückdrehen lassen. „Damals war man der Meinung, man lebt doch prima ohne Geheimdienst“, meint Drescher, damals 30 Jahre alt und schon ein paar Jahre in Oppositionskreisen unterwegs. Die SED-Gegner riefen zum Widerstand. Tausende kamen.
„Das war schon ein großer Akt“
Auf sie wartete ein „psychologisches Wechselbad“, so nennt es Historiker Wolle. „Es hat ja jahrelang eine ungeheure Angst gegeben vor der Stasi“, erinnert er sich. „Und da nun einfach so hinzurennen, die Tore aufzumachen und mit denen zu verhandeln und sich alles zeigen zu lassen, das war schon ein großer Akt.“
Joachim Gauck, damals im Neuen Forum, dann erster Chef der Stasi-Unterlagenbehörde und später Bundespräsident, sprach einmal von einem „Element der Genugtuung“ bei den Demonstranten in den Stasi-Gebäuden. Einiges ging zu Bruch, darunter ein Stasi-eigener Friseursalon im sogenannten Versorgungstrakt im Haus 18, auf Fluren lagen großflächig Papiere verstreut. Aber so richtig wussten die Besetzer nicht, was sie genau bewirken wollten, das berichten mehrere Zeitzeugen. Nach zwei, drei Stunden zogen sie wieder ab. Beauftragte eines Bürgerkomitees übernahmen die Wacht über die Akten.
„Das Herrschaftswissen in die Hände der Unterdrückten“
Auch die große Linie war Gauck zufolge längst nicht ausdiskutiert. „Was klar war, ist: Wir wollten nicht, dass die Akten vernichtet werden“, sagte Gauck in einer Podiumsdiskussion 2011. „Das Herrschaftswissen sollte in die Hände und Köpfe der Unterdrückten, das war uns wichtig. Aber wie weiter?“ Erst nach einer weiteren Besetzung der Stasi-Räume in Lichtenberg samt Hungerstreik war kurz vor der deutschen Vereinigung endlich geklärt, dass die Akten erhalten und auch zugänglich bleiben würden.
Bis heute sind nach Angaben des inzwischen zuständigen Bundesarchivs mehr als 7,5 Millionen Anträge zur Einsicht in Stasi-Unterlagen gestellt worden, davon mehr als 3,4 Millionen Bürgeranträge. Mehr als drei Jahrzehnte nach Ende der DDR kamen 2024 weitere 28.571 Anträge von Bürgerinnen und Bürgern hinzu.
Versöhnung und Bitterkeit
„Die Einsicht in Stasi-Unterlagen ist gesamtgesellschaftlich eine Erfolgsgeschichte“, meint der Präsident des Bundesarchivs, Michael Hollmann. „Es war absolut richtig und wichtig, die Stasi-Akten zu sichern und zu öffnen. Diese Transparenz hat einer neuen Traumatisierung der Opfer entgegengewirkt und auch Versöhnung möglich gemacht.“
Versöhnung gab es, aber auch viel Bitterkeit. Ralf Drescher zum Beispiel beantragte Anfang der 1990er Jahre Akteneinsicht und fand heraus: Sein vormals bester Freund hatte ihn ausspioniert. Ähnliches passierte tausendfach.
Dazu kamen Überprüfungen für Bewerber im öffentlichen Dienst, Enthüllungen über Promis und Politiker, Gezerre um die Herausgabe von Akten, nicht zuletzt über den früheren Bundeskanzler Helmut Kohl. Journalisten großer westdeutscher Medien verbissen sich in einzelne Fälle.
Der Vergleich mit dem Verfassungsschutz „hinkt total“
Plötzlich war da ein Ost-West-Konflikt und die Unterstellung, der Westen wolle die ganze DDR auf die Stasi reduzieren und schlecht machen. Im milden Licht der Vergangenheit schienen die Untaten der DDR-Geheimpolizei einigen nicht mehr unvergleichlich. Heute ziehen staatskritische Demonstranten und AfD-Politiker Parallelen zwischen der Stasi und dem Verfassungsschutz, so etwa der AfD-Abgeordnete Horst Förster im Schweriner Landtag im Sommer 2024.
Der Vergleich regt nicht nur ehemalige Bürgerrechtler auf, die von der Stasi ausspioniert, eingeschüchtert oder inhaftiert wurden. Auch Historiker Wolle findet: „Der Vergleich hinkt total, in jeder Beziehung, in absolut jeder Beziehung.“ Für die Stasi habe es keinerlei Grenzen gegeben. „Die Stasi durfte alles. Die durfte Telefone abhören, die durfte Briefe ablichten, Bankkonten einsehen, Gesundheitsakten einsehen.“ Heute sei das völlig anders.
Der Verfassungsschutz Thüringen hat die Unterschiede aufgelistet. Er verweist auf gesetzliche Vorgaben heute und die „Kontrolle durch alle Staatsgewalten“. Bundesweit gebe es 6.000 Verfassungsschützer – bei der Stasi seien es allein 91.000 Hauptamtliche gewesen.
Akten statt Fake News
Nicht zuletzt deshalb seien die Stasi-Akten so wichtig, sagt Bundesarchiv-Chef Hollmann. „35 Jahre nach der Stürmung der Stasi-Zentralen geht es darum, jüngere Menschen über die Staatssicherheit aufzuklären.“ Die hätten die schlimmen Begleiterscheinungen der SED-Diktatur ja nicht erlebt. „Indem sie an Unrecht erinnern und Fakten gegen Fake News setzen, sind Archive eine wichtige Stimme für die Demokratie.“