Der ehemalige Lieferfahrer Orry Mittenmayer schreibt über eine der härtesten Branchen der Welt – und verrät, was man im Umgang mit den Lieferanten immer beachten sollte.

Als die „Honigfalle“ zuschnappt, ist Orry Mittenmayer 23. Er hat eine Ausbildung zum Buchhändler abgeschlossen und will auf der Abendschule sein Abitur nachholen. Aber Mittenmayer kommt aus armen Verhältnissen und hat keine Ersparnisse. Überall werben damals junge Start-ups um Lieferfahrer, sagt Mittenmayer. Sie versprechen auf bunten Plakaten Flexibilität und Freiheit, Spaß auf dem Fahrrad statt Arbeit. Das sei der „Honig“ gewesen, sagt Mittenmayer. „Das Perverse war, dass Menschen wie ich, die jung waren, dachten, wir würden dafür bezahlt, Sport zu machen. Ich musste nicht mehr zu McFit – und bekam sogar noch Trinkgeld.“

Es ist 2016. Das britische Unternehmen Deliveroo hat gerade nach Deutschland expandiert. Kurz darauf folgt Foodora. Immer mehr Plattformen kämpfen um Marktanteile. Die Arbeitsbedingungen sind weitgehend unreguliert. Ein paar Klicks und ein Bewerbungsgespräch in einem modernen Start-up-Büro später hat Mittenmayer den Job. Er will nur ein paar Monate überbrücken, stattdessen arbeitet er jahrelang bei den Lieferdiensten mit den großen Rucksäcken. Er wird zum „Rider Captain“, einer Art Vorarbeiter. Und kurz darauf zum „Verräter“, als er gemeinsam mit Kolleginnen und Kollegen einen Betriebsrat gründen will. In seiner Autobiografie „Ausgeliefert“ erzählt er nun davon.

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Schon als er seinen ersten Auftrag beschreibt, ahnt man, dass es mit dem neuen Job nicht gut gehen wird. Mittenmayer schwingt sich in den Sattel, das Fahrradfahren liegt ihm. Aber erst findet er das Restaurant nicht, dann fällt ihm das Essen – schlecht verpackte indische Linsensuppe – herunter, unter den abschätzigen Blicken des Kunden. Eine Rückerstattung wird fällig, Trinkgeld gibt es nicht. Nach seinen ersten Schichten wird Mittenmayer klar, dass die Freiheit an Bedingungen geknüpft ist. In seinem Buch nennt er die Liefer-App, auf der er seine Aufträge erhält, den „unbarmherzigen Algorithmus“. Der sei das Herzstück des Lieferdienstes. Er entscheidet, wer wann arbeitet, wer gute oder schlechte Schichten erhält. Jede Minute zählt. Wer sich ausloggt oder langsam ist, wird abgestraft und riskiert schlechte Arbeitszeiten. Selbst Toilettenpausen können problematisch werden, „weil die App eine Verzögerung als negatives Feedback speichert“.

Orry Mittenmayer arbeitet unter psychologischem Druck

Die Lieferdienste, die sich als jung und dynamisch präsentieren, arbeiten mit psychologischem Druck und Motivationstricks, sagt Mittenmayer. „Fahrer werden als wichtiger Teil des Teams gelobt“, doch gleichzeitig sei die Leistung kontinuierlich überwacht worden. „Das Ganze ist knallhart an Bedingungen geknüpft. Wir müssen ständig abliefern, und wehe, wir sind nicht schnell genug.“

Kein Urlaub, keine Krankentage, keine Sozialversicherung. Ob Trinkgeld und Weihnachtsgeld ankommen, können die sogenannten „Rider“ auf den Abrechnungen nicht nachvollziehen.

Mittenmayer sitzt fest in der Falle: Die Ausrüstung des Nebenjobs muss er selbst stellen, das Fahrrad, das Handy. Im Sommer ist das kein Problem, aber dann kommt der Winter mit Regen und Schnee. Mittenmayer brauchte neue, wetterfeste Kleidung. „Man muss das Fahrrad reparieren. Wenn man Pech hat, braucht man auch ein neues Handy, weil es aus den durchgefrorenen Händen gerutscht ist.“ Fahrer investieren ein paar Hundert Euro, verdienen aber nur knapp über Mindestlohn – und schon stecken sie in der negativen Kostenspirale. „Ich dachte: Mist, ich komme hier nicht mehr raus. Ich muss irgendwie weitermachen“, sagt Mittenmayer.

Das Buch beginnt etwas umständlich in Mittenmayers Kindheit. Die im Untertitel versprochene Analyse „Wie Lieferdienste ihre Fahrer ausbeuten, warum uns das alle ärmer macht – und was wir dagegen tun können“ kommt dagegen etwas zu kurz.

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Trotzdem: Wer mehr als einmal im Monat bei Schnell-Lieferdiensten bestellt und sich fragt, ob das mit einer ethischen Existenz in der Postmoderne vereinbar ist, der sollte Mittenmayers Geschichte lesen. Sie nimmt uns auf die andere Seite der kleinen Figur in der App mit, die von Kreuzung zu Kreuzung rast.

Man folgt Mittenmayer, der mit vom eiskalten Fahrtwind brennenden Gesicht durch Köln fährt, in schicke Villen mit Marmorspringbrunnen sowie in Messiewohnungen. Und mitten hinein in die Unbarmherzigkeit. Kurz nach einem Unfall habe sein Telefon geklingelt: „Du bewegst dich gerade nicht auf dem Bildschirm, und du hast eine laufende Order“, habe der Kollege aus der Zentrale gesagt. Und, nachdem Mittenmayer vom Unfall berichtete: „Gute Besserung. Weißt du, ob das Essen noch heil ist?“

Sie haben sich gegenseitig Notaufnahmen empfohlen

Zynisch wird es auch, als Mittenmayer erzählt, wie die Fahrer zwischen den Schichten darüber ins Gespräch kommen, wo die Straßen glatt oder gefährlich sind. „Wir haben uns Notaufnahmen empfohlen, in denen man schnell angenommen wird – um schnell wieder auf der Straße zu sein.“

Heute sei vieles besser. Handys, Kleidung und Fahrräder werden oft gestellt, die Macht der Apps ist eingeschränkt, und in vielen Unternehmen wurden gegen Widerstände Betriebsräte etabliert. Auch die EU hatte Anfang des Jahres auf den Vorwurf reagiert, die Plattformökonomie behandle ihre Arbeiter wie moderne Sklaven. Neue Vorgaben sollten Scheinselbstständigkeit verhindern und sicherstellen, dass soziale Standards und Menschenrechte eingehalten werden. Aber hart seien die Bedingungen noch immer, sagt Mittenmayer.

Sollte man sich die Pizza also lieber selbst abholen? „Ich bin kein Fan von individualistischer Konsumkritik“, sagt Mittenmayer. „Ja, es ist okay. Essen zu bestellen. Ich mache das selbst auch.“ Die Branche biete Menschen Arbeit, die ohne Ausbildung oder Sprachkenntnisse in anderen Branchen kaum eine Beschäftigung fänden. Etwa die Hälfte der Menschen, die für hiesige Gig-Plattformen arbeiten, hat keine deutsche Staatsbürgerschaft, die meisten kommen aus Asien. „Als Gesellschaft müssen wir organisieren, dass Arbeit, egal welche, gut organisiert ist. Und dass es sich lohnt, davon zu leben“, sagt Mittenmayer. Nur eine Faustregel hat er. „Ich habe manchmal so wenig Geld verdient, dass es am Ende des Tages vom Trinkgeld abhing, ob ich mir was Warmes kochen konnte.“ Trinkgeld sollte man also immer großzügig geben – und bar, damit die App es nicht verschluckt.