Heute ist Vorlesetag. Das klingt nett. Und irgendwie niedlich. Hat aber einen traurigen Hintergrund.
Der bundesweite Vorlesetag steht heute unter dem Motto: „Vorlesen schafft Zukunft“. Doch um die scheint es in diesem Land nicht so gut bestellt, denn jedes dritte Kind kennt es hierzulande nicht, dass sich ein Erwachsener regelmäßig mit hin hinsetzt und ihm vorliest.
Wie schade!
Denn Vorlesen bildet die Grundlage für ganz viele Fähigkeiten, die Kinder als Erwachsene im Leben brauchen. Es hilft ihnen dabei, selbst leichter Lesen zu lernen, es stärkt die Sprachkompetenz, das Einfühlungs- und Vorstellungsvermögen. Geschichten lesen und vorlesen – das ist Kino für den Kopf. Vorlesen regt so im besten Fall nicht nur die Fantasie an, sondern weckt dazu auch Verständnis für andere. Und wem als Kind regelmäßig vorgelesen wurde, der verschlingt auch als Erwachsener höchstwahrscheinlich Romane und liest Kommentare wie diesen hier. Bis hierhin sind sich wahrscheinlich alle einig.
Aber warum tun es dann so wenige? Nehmen wir uns zu selten Zeit dafür, weil wir zu viel am Handy sind und das Tablet als elektronischen Beruhigungsschnuller für die Kleinen einsetzen?
Dabei bringt es doch so viel: Gute Leser lernen leichter, haben bessere Noten, machen die besseren Abschlüsse in der Schule.
Vorlesetag: Akademiker tun es häufiger!
Kinder, denen zu Hause selten oder gar nicht vorgelesen wird, haben es dagegen schwerer. Dabei besteht ein direkter Zusammenhang zwischen der Anzahl der Bücher im Regal und der Kompetenz, Texte lesen und verstehen zu können. Studien zeigen: Akademiker und Akademikerinnen lesen ihren Kindern deutlich häufiger vor oder erzählen ihnen Geschichten als gering qualifizierte Mütter und Väter. Auch in vielen fremdsprachigen Familien wird weniger vorgelesen.
Die letzte Pisa-Studie, die vor einem Jahr veröffentlicht wurde, stellt Deutschland ein schlechtes Zeugnis aus: Jeder vierte Jugendliche im Alter von 15 Jahren kann nicht richtig lesen. Sie verstehen zum Teil nicht mal die einzelnen Worte eines Satzes und können daher den Gesamtzusammenhang des Textes nicht dekodieren. Besonders schlecht sind Kinder aus sozial benachteiligten und bildungsfernen Familien. In kaum einem anderen reichen Land hängt die Fähigkeit, gut und richtig lesen zu können, so sehr vom Elternhaus ab wie in Deutschland.
STERN PLUS Sind Zeugnisse gerecht? Eine Lehrerin erzählt 6.20
Wer nicht lesen lernt, bleibt dumm
Wer am Ende seiner Schulzeit ein schlechter Leser oder eine schlechte Leserin ist, also gerade einmal so Texte auf Grundschulniveau mühsam buchstabieren kann, der wird sich auch in allen anderen Schulfächern und vielen Lebensbereichen schwertun. Lesen zu können ist buchstäblich der Schlüssel zu weiteren Fähigkeiten wie Schreiben und auch Rechnen.
STERN PAID 50_23 PISA Bildung in Deutschland, 20.45
Dies ist keine bildungsbürgerliche, akademische Diskussion. Schlecht lesen zu können, wirkt sich auf alle Bereiche des Lebens aus: Er oder sie wird kaum ein Formular richtig ausfüllen können. Wer schlecht liest, kann auch nicht die Preise von Produkten im Internet recherchieren und vergleichen. Er oder sie gibt womöglich zu viel Geld aus, fällt auf Werbeversprechen herein und kann sich auch kaum ein Urteil über den Inhalt von Posts und Nachrichten in den sozialen Medien bilden. Echt oder Fake: Wie soll man das beurteilen, wenn man nicht richtig lesen kann? Insofern ist das Motto für den Vorlesetag für heute gut gewählt: „Vorlesen schafft Zukunft“.
So, jetzt müssen Sie hier auch gar nicht mehr weiterlesen. Vielleicht schnappen Sie sich ein Buch und lesen einem Jungen oder einem Mädchen vor. Zehn bis 15 Minuten pro Tag empfiehlt die Stiftung Lesen. Viel Spaß dabei!