Sie führen unglückliche Beziehungen, haben Schulden oder Stress mit der Mafia. In Japan erhalten Menschen über Nacht ein neues Leben. Vom Untertauchen als Dienstleistung.

Sichtlich nervös sitzt eine Frau am Steuer ihres Autos. Sie schaut ungeduldig auf einen Wohnblock. Es ist Nacht. Nur die Laternen in der Gasse, in der das Fahrzeug parkt, spenden Licht.

„Da kommt er angerannt. Lass ihn rein“, sagt plötzlich eine weitere Frau, die auf der Rückbank sitzt. Und tatsächlich: Ein Mann eilt in ihre Richtung. Er trägt eine Mütze und einen Mund-Nasen-Schutz, möchte offensichtlich nicht auffallen. Bei sich hat er nur eine kleine Tasche, sonst nichts.

„Wir können nicht zurück“, sagt ihm eine der Frauen, nachdem er eingestiegen und das Auto losgefahren ist. „Ich weiß“, antwortet der Mann.

In Japan verschwinden jährlich 80.000 Menschen mit Nachtumzugs-Unternehmen. „Johatsu“ werden die Flüchtigen genannt. Übersetzt: „die Verdunsteten“. Menschen, die verschwinden. Sich in Luft auflösen. Ein Dokumentarfilm, aus dem die eingangs beschriebene Szene stammt, begleitet Japaner, die auf diese Weise ein neues Leben beginnen. 

Für manche ein Paradies

„Die Fantasie des Verschwindens, neu anzufangen, das Handtuch zu werfen, ist, glaube ich, überall auf der Welt gerade präsent“, sagt Regisseur Andreas Hartmann gegenüber „Westart“, einem Kulturformat der ARD. Die Digitalisierung und das Gefühl, immer präsent sein zu müssen, zu performen, trage dazu bei.

PAID Japan Kündigungsagentur 11:05

Die Firmen seien legal, nur manche von ihnen fallen in eine Grauzone, heißt es in dem ARD-Beitrag. Indem sie das Untertauchen ermöglichen, retten die Nachtflucht-Unternehmen manchen Menschen das Leben. Wortwörtlich.

Kanda, der in der Doku begleitet wird, hat für die Mafia gearbeitet und schuldet ihnen Geld. „Sie bedrohten mich und meine Familie“, berichtet er. Jetzt lebt er in Nishinari, einem Tagelöhnerviertel in der japanischen Stadt Osaka.

„Hier in Nishinari kritisiert dich niemand. Alle ignorieren dich einfach. Niemanden interessiert es, ob dein Name echt oder falsch ist“, erzählt Kanda. „Selbst wenn du ein Verbrechen begangen hast, kannst du hier anonym leben. Jetzt gerade, ich sage das nur ungern, ist es für mich das Paradies.“

Worst case in Japan: Gesichtsverlust

Der Ort Nishinari habe ihn sofort fasziniert, berichtet Regisseur Hartmann. „Ich war auch sehr überrascht, wie offen die Leute mir gegenüber waren.“ Da er aus einem fremden Land dort hinkam, haben die Menschen sich ihm gegenüber offen gezeigt, vermutet er. Weil die Bewohner sich selbst auch als Außenseiter sehen.

Nishinari, Osaka, Japan. Hier wird niemand für seine Vergangenheit verurteilt
© Realfiction

Andreas Hartmann reist seit 2016 immer wieder für längere Zeit nach Japan und hat die Kultur dort kennengelernt. „Wenn man Fehler macht oder scheitert, ist es oft mit Gesichtsverlust verbunden“, sagt er. Die Scham der Menschen sei dann so groß, dass sie lieber aus der Gesellschaft verschwinden, statt zu versuchen, sich der Situation zu stellen.

Auch in Deutschland tauchen Menschen unter. Das ist aber bei weitem nicht vergleichbar mit dem japanischen Phänomen der „Johatsu“. In der Kultur des ostasiatischen Inselstaats sei es sozial quasi akzeptiert, wenn Leute von heute auf morgen verschwinden und ein neues Leben anfangen, so Hartmann.

Der letzte Ausweg

Die meisten Betroffenen sind zutiefst verzweifelt. „Johatsu“ zu werden ist ihr letzter Ausweg. „Ich habe versucht, mich zu erhängen, aber ich war nicht mutig genug“, erzählt Sugimoto. Er hat sein Familienunternehmen in den Bankrott geführt und Schulden in Millionenhöhe verursacht.

Aktuell schlafe er in Business-Hotels, Internet-Cafés oder seinem Auto, erzählt der Japaner. Seine Frau und drei Kinder hat er seit sechs Jahren nicht gesehen. Nur manchmal telefoniert er mit ihnen. Stets verfolgt ihn die Angst, dass die Schuldeneintreiber ihn doch noch finden.

Mittlerweile arbeitet Sugimoto selbst für ein Nachtumzugs-Unternehmen und hilft Menschen, die ähnlich verzweifelt sind wie er. Sein größter Wunsch: dass seine Kinder für ihr Studium zu ihm ziehen, damit sie wieder zusammenwohnen können.

Von einem anderen Leben träumen

„Johatsu – Die sich in Luft auflösen“
© Realfiction

Über vier Jahre begleiteten die Filmemacher Arata Mori und Andreas Hartmann Menschen wie Kanda und Sugimoto in Japan. Nach und nach öffneten sie sich, sprachen zum ersten Mal über ihre Lebensgeschichte.

Seit Donnerstag, dem 14. November, läuft der Dokumentarfilm „Johatsu – Die sich in Luft auflösen“ in deutschen Kinos. Er stellt nicht nur das Phänomen vor, sondern dringt tief in die menschliche Natur ein.

Zuschauer erhalten Einblicke in Einsamkeit und die Sehnsucht nach Veränderung. Und dürfen dabei, wenn auch nur für eineinhalb Stunden, selbst von einem anderen Leben träumen.

Quellen:ARD, „Realfiction