Ganzjahresreifen sind bequem. Aber was ist, wenn doch Schnee fällt? Der technische Direktor von Michelin kennt die Unterschiede und sagt, wer sich den Reifenwechsel sparen kann.
Herr Kistner, Sie sind technischer Direktor für Light Trucks und Pkw bei Michelin. Sie müssen es also wissen. Heute werden Ganzjahresreifen immer besser, sind spezielle Winterreifen überhaupt noch nötig?
Ja, sie werden gebraucht, wenn Sie öfters auf winterlichen Straßen unterwegs sind und somit häufiger auf entsprechende Straßenverhältnisse treffen. Wenn Sie regelmäßig in den Skiurlaub fahren, dann brauchen Sie Winterreifen. Ich habe auf meinem Firmenwagen Winterreifen verbaut, weil ich öfters in unsere Zentrale über das Schweizer Zentralmassiv fahren muss. Wenn ich nur zwischen meinem Wohnort nach Karlsruhe oder nach Frankfurt pendeln würde, dann würden Ganzjahresreifen ausreichen.
Winterreifen also dann, wenn zum Schnee noch Steigungen und Gefälle dazukommen. In diesem Jahr erleben wir, dass wärmere Winter nicht unbedingt weniger Schnee bedeuten. Doch in den letzten Jahren ging der Trend zum Ganzjahresreifen.
Ja, auch in meinem Bekanntenkreis haben viele auf Ganzjahresreifen umgestellt. Man hat keine Umrüstung, keine zusätzlichen Kosten. Da ist die Bequemlichkeit der auslösende Faktor. Das ist eine Tendenz, die sich noch verstärken wird, weil das Produktportfolio breiter wird. Ich kann mittlerweile auch für große SUVs Ganzjahresreifen bekommen. Wir bei Michelin haben jedenfalls wachsende Volumen im Ganzjahresreifenbereich. Da gibt es aber auch ein Problem, das gern übersehen wird. Beim regelmäßigen Tausch von Winter auf Sommer hat meistens ein Experte auf die Reifen geschaut. Muss man die ersetzen? Hält er noch eine Saison? Das entfällt, wenn man nicht mehr wechselt.
Stimmt, das fällt bei Ganzjahresreifen weg. Woran erkenne ich, dass ich meinen Reifen wechseln sollte?
Sie haben Verschleißanzeigen in den Umfangsrillen. Das sind kleine Erhebungen, 1,6 Millimeter hoch. Diese kleinen Erhebungen markieren die gesetzliche Mindestprofiltiefe. Da ist noch ein Sicherheitsabstand drin. Aber wenn ich mit dem Abrieb an diese Verschleißanzeiger herankomme, sollte ich mich mit einem Wechsel beschäftigen.
Welche Laufleistung kann man heute bei Markenreifen erwarten?
Pauschal kann man das eigentlich nicht sagen. Hauptfaktor ist die Fahrweise. Wir prüfen Reifen mit verschiedenen Fahrprofilen. Von aggressiver bis bedachter Fahrweise ist alles dabei. Da gibt es eine breite Spanne für ein und dieselben Reifen. Aber Sie wollen eine Antwort: Bei einem Fronttriebler hält die Vorderachse durchaus 40.000 Kilometer, die Hinterachse 100.000 Kilometer, weil kein Antriebsmoment auf der Hinterachse ist.
Es gibt diese alte Regel. Von O bis O, also Oktober bis Ostern, soll man mit Winterreifen fahren. Sind spezielle Winterreifen in dieser Zeit in allen Situationen überlegen?
Im Rennsport kann man für jedes Rennen einen speziellen Reifen aufziehen, den man für die Verhältnisse braucht. Das kann im Alltag keiner machen. Es gibt sicherlich Situationen, wenn es in der Übergangszeit trocken ist, dann hat ein Sommerreifen Vorteile im Vergleich zu einem Winterreifen. Doch einen Tag kann es trocken sein, dann kann es nieseln, da kann es um die 0 Grad sein. Letztlich gehen Sie immer einen Kompromiss ein.
Sie arbeiten für ein Markenprodukt – eben Michelin. Wo sehen Sie den Unterschied zwischen Premiumreifen und Billigreifen?
Der Anschaffungspreis von Anbietern aus der Dritt-Linie ist billiger. Das ist aber nicht ausschlaggebend. Die Frage ist: Welche Laufleistung kann ich erreichen? Wenn ein Premium-Reifen etwa 40.000 bis 50.000 Kilometer hält, habe ich bei Reifen aus der Dritt-Linie schon lange einen zweiten Satz drauf. Und der Markenreifen ist im Kauf letztlich nur 30 bis 40 Prozent teurer. Rechne ich bei den Billigpneus zwei Mal die Montagekosten hinzu, kommt es aufs Gleiche raus. Durch die höhere Laufleistung sind Premium-Reifen also über die Lebensdauer günstiger. Dazu kommt ein weiterer Aspekt. Reifen aus unserem Haus erzielen ihre Performance bis an die Verschleißgrenze. Das heißt, ihr ganzes Leben lang bleiben sie gleich sicher und gleich zuverlässig. Das haben sie bei vielen Billiganbietern nicht. Am Markt gibt es Winterreifen, da reichen die Lamellen nur bis zur halben Profiltiefe. Wenn das abgefahren ist, hat der Reifen zwar noch Profil, aber keine Lamelle für den Griff auf dem Schnee mehr.
Ein anderes Thema. Die E-Fahrzeuge. Sie besitzen ein höheres Drehmoment und sind schwerer als Verbrenner. Wie wirkt sich das auf die Reifen aus?
Der wirkliche ausschlaggebende Punkt ist das hohe Gewicht, das haben Sie immer. Das maximale Drehmoment wirkt nur sehr selten. Also benötigen Sie einen Reifen, der ein wenig steifer ist, um die Verformungen durch das Gewicht auszugleichen.
Letztlich ist das nicht neu, bei leichten Lkw stellt sich das Problem genauso.
Dazu braucht man einen speziellen Materialmix im Laufstreifen, damit man optimal die Kapazität der Batterien nutzen kann. Mit der richtigen Reifenwahl kann man zwischen 7 und 10 Prozent mehr Laufleistung erreichen.
Weniger Verbrauch ist auch bei Verbrennern ein wichtiger Punkt. Dazu führen Sie lange Laufleistungen ins Feld, wenn es um Nachhaltigkeit geht. Aber woraus bestehen Ihre Reifen eigentlich?
Wir nutzen heute schon nachwachsende Rohstoffe im Reifen. Naturkautschuk ist nachwachsend und damit auch nachhaltig. Wir liegen heute über alle Segmente hinweg bei rund 30 Prozent von recyceltem Material oder nachwachsenden Rohstoffen im Reifen. Wir haben uns dazu verpflichtet, dass Michelin im Jahr 2030 40 Prozent nachwachsende und/oder recycelte Rohstoffe im Reifen einsetzen wird. Bis 2050 sind es dann 100 Prozent.
Das ist nicht trivial. Die Anforderungen an das Reifenmaterial sind höher als bei Blumenkübeln.
Das Material aus nachhaltigem Ursprung muss mindestens genauso gut sein wie das Material, welches wir ersetzen. Die Performance muss gleichzeitig verbessert werden. Wir machen keine nachhaltigen Reifen auf Kosten von Sicherheit und Rollwiderstand. Ich bin jetzt 25 Jahre in der Erstausrüstung tätig, wir streben schon immer danach, dass unsere Reifen möglichst lange halten und durch ihren geringeren Rollwiderstand möglichst wenig Ressourcen, also auch Sprit verbrauchen. Über die Jahre hinweg haben wir den Rollwiderstand jedes Jahr um ein Prozent verbessert, das muss beibehalten werden.
Dieses Interview erschien zuerst am 17. Oktober 2024.