Unsicherheit und Instabilität: Wie geht man mit dem Gefühl um, dass unsere Gesellschaft gerade am Abgrund tanzt? Anruf bei einem, der es wissen muss: einem Profi-Slackliner. 

Herr Kühne, als Profi-Slackliner begeben Sie sich freiwillig immer wieder in Unsicherheit und Instabilität.
So kann man das sagen. Wir Slackliner balancieren auf einem schmalen, dynamischen Gurtband. Es ist eine Art moderner Seiltanz. Ich mache das seit über zehn Jahren und bin inzwischen mehrfacher Weltrekordhalter im Highlinen. „Highline“ bedeutet, dass der Gurt so hoch gespannt ist, dass es eine Sicherung braucht, weil ein Sturz gefährlich oder lebensbedrohlich wäre. Das können zwei Meter sein, das können fünf oder bis zu Tausend Meter sein. Ich mache das auch ohne Sicherung: Das nennt sich dann „Solo Highline“.

Sie sind also Meister für, sagen wir, dynamische Situationen. Beeinträchtigt sie die aktuell instabile politische Lage? 
Es gibt Tage, da zieht die Weltlage auch mich runter, obwohl ich nicht der politische Mensch bin. Aber wenn ich versuche einen neuen Weltrekord aufzustellen, dann werde ich auf den letzten Metern sicher nicht an Donald Trump oder das Scheitern der deutschen Regierung denken. Ich habe gelernt, mich zu fokussieren.

Ihr Sport wird gern mit Häme überschüttet, Slackliner als naive Naturburschen verpönt. Lachen Sie jetzt zuletzt und am besten – weil Sie besser mit Unsicherheit umgehen können? 
Soweit würde ich nicht gehen. Ich habe mir noch nie gedacht, dass Menschen den Kürzeren gezogen haben, weil sie nicht rechtzeitig mit dem Slacklinen angefangen haben.

Schade.
Aber es stimmt schon, manche Menschen nehmen Slacklinen nicht als richtigen Sport wahr, sondern als Trend, als Spielzeug.

Zur Person

Versuchen wir es anders: Ist das angebliche Spielzeug nicht viel mehr ein sehr nützliches Werkzeug, das hilft, in instabilen Zeit zu leben?
Ich stimme zu, dass mich das Slacklinen resilienter gemacht hat. Durch den Sport bin ich mental und körperlich stärker geworden. Dadurch, dass die Slackline immer wackelt, komme ich auch im übertragenen Sinn mit instabilen Lebensphasen zurecht.

Also doch! In der Vorbereitung auf dieses Gespräch fiel auf: Es gibt ganz schön viele Slackliner, die Coaches oder Vortragsredner sind – auch Sie. Wird man mitteilungsbedürftig, gar philosophisch, wenn man oft auf wackeligem Untergrund steht?
Vielleicht kann man verallgemeinernd sagen, dass der Extremsport und die Auseinandersetzung mit Angst und Risiko zum Philosophieren anregt. Außerdem teilen wir Slackliner gern unsere Erfahrungen, Begeisterung und Weisheit mit den Menschen. Denn genauso lernt man Slacklinen: Am Anfang wird man von anderen mitgezogen. Vielleicht wollen wir deswegen Menschen gern motivieren, ihre Ziele und Träume im Leben zu verfolgen.

Dann mal her mit der Weisheit: Welche körperlichen Fähigkeiten helfen, Instabilität zu verkraften? 
Da man beim Balancieren sehr aufrecht stehen muss, hilft ein gerader Rücken, also Haltung anzunehmen. So hält man das Gleichgewicht. Für Bürohengste kann Slacklinen Wunder wirken, weil der Rücken aktiviert und durchblutet wird.

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Wir notieren: In unsicheren Zeiten Haltung annehmen – das gilt auch für Bürohengste!
Wenn Sie so wollen. Zumindest sagten mir alle Orthopäden, bei denen ich war, dass ich mir um meinen Rücken nie Gedanken machen müsse. 

Angeblich hilft es auch, immer in Bewegung zu bleiben?
Ja, die Slackline wackelt so sehr, dass Stillstand auf ihr unmöglich ist. Vollkommene Ruhe kehrt nie ein. Der Gurt ist so dehnbar und elastisch, dass er immer schwingt – und der Slackliner muss mitschwingen. Wer sich versteift, fällt.

Das klingt doch nach einem guten Stichwort für einen Ratschlag: mitschwingen. 
Zumindest lehrt das Slacklinen, dass man perfektes Gleichgewicht nie erreichen kann. Es ist eine Wunschvorstellung, nach der wir streben, aber der wir uns nur annähern können. Man lernt, dass Bewegung und ein leichtes Ungleichgewicht zum Leben dazugehört. Aber wenn man sich darauf einlässt, dann kann man sich oben halten.

Aber es ist normal, dass man am Anfang Angst hat, oder?
Ja, ganz zu Beginn sollte man darauf achten, dass man die Umstände, die man beeinflussen kann, so einfach und angenehm wie möglich gestaltet. Man sollte die Leine also niedrig zwischen zwei Bäumen im Park aufspannen. Denn beim Slacklinen ist die Lernkurve am Anfang wahnsinnig flach, die ersten Erfahrungen sind zwangsläufig frustrierend. Man zittert durchgängig. Es braucht Hartnäckigkeit, man darf sich von Rückschlägen nicht einschüchtern lassen.

Haben Sie noch motivierender Worte, vielleicht ein Versprechen, für Instabilitäts-Anfänger?
Die Wiederholung lohnt! Die Lernkurve ist nur am Anfang flach und wird dann sehr schnell sehr steil. Nach den ersten Fortschritten geht es rapide aufwärts. Dann will man gar nichts anderes mehr machen, als zu balancieren.

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Ein Kollege von Zeit Online empfahl, angesichts der politischen Lage „in den Abgrund“ zu schauen. Was halten Sie von dieser Handlungsempfehlung? 
Da würde ich dringend von abraten, vor allem am Anfang. Der Blick gehört nach vorn, dort, wo man hinwill. Unten ist das Fallen, das Versagen, das Scheitern. Das wollen wir ignorieren. Außerdem: Den Kopf hängenzulassen, ist schlecht für die Wirbelsäule. 

Was macht man, wenn man doch merkt, wie die Angst aufsteigt?
Es gibt kein Wunderheilmittel, das ist etwas sehr Individuelles. Aber es gibt ein paar Tricks für den eigenen Kopf. Jeder muss für sich gucken, was am besten hilft. Manche Leute hören Musik, um so in den Flow zu kommen. Andere versuchen, sich mit der Musik von der Höhenangst abzulenken. Wieder anderen hilft es, wenn Sie Publikum haben, das Sie anfeuert. Da gibt es dann die, die besonders laut und energisch angefeuert werden wollen. Und manchen hilft es tatsächlich, wenn man ihnen Mut zuflüstert. 

Was, wenn man gerade niemanden zur Hand hat, der einen anfeuert oder einem Mut zuflüstert?
Dann kann man versuchen, sich auszutricksen und die Angst vor sich selbst vertuschen. Ich habe das am Anfang beim „Highlinen“ tatsächlich gemacht. Da habe ich vor mich hingesagt: „Da ist keine 50-Meter-Schlucht unter Dir. Es gibt keinen Abgrund. Du bist im Park und unter Dir ist eine Wiese.“ Mit solchen Selbstgesprächen kann man sich ein wenig austricksen.

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Das mag funktionieren, wenn man allein in 50 Metern Höhe ist. Wer „Donald Trump ist nicht der Präsident der USA“ auf der Arbeit vor sich hinmurmelt, geht wahrscheinlich einfach nur allein Mittag essen. 
Stimmt. Aber in akuten Angstsituationen hilft es durchaus, sich zuzureden. Muss ja auch nicht laut sein. Anderen hilft es zu lächeln – und ich meine damit nicht, dämlich herumzugrinsen. Aber beim Lächeln denkt sich das Gehirn: „So schlimm kann diese Situation nicht sein.“ Das sorgt für Entspannung. Wie gesagt, all diese Tipps helfen nicht jedem oder immer. Aber manchen, manchmal. Und zu guter Letzt kann man auch einfach rational sein.

Das klingt vernünftig. Wie schafft man das?
Zuerst sollte man darauf achten, in welche Situationen man sich selbst begibt. Wer berechtigte Angst hat, abzustürzen, hat etwas falsch gemacht: Niemand sollte ohne Sicherung in 50 Metern Höhe stehen, wenn er sich nicht sicher ist, nicht zu fallen. Wer unbedingt in 50 Metern Höhe stehen muss, der sorgt mit einem Klettergurt für Absicherung. Wenn man dann Angst kriegt, denkt man an den Gurt, der an einem dicken Knoten hängt. Man denkt daran, dass der Knoten vom Partner überprüft wurde, und daran, dass die „Highline“ doppelt abgesichert ist. So kann man dem mulmigen Gefühl mit Argumenten begegnen, dann kann der Verstand die Oberhand gewinnen. 

So findet man dann irgendwann Freude in der Instabilität?
Wir Slackliner sagen ganz gern: Auf dem Gurt trennen Dich nur zweieinhalb Zentimeter vom Fliegen. Der Aufwand lohnt sich wirklich. Wer die Frustrations-Phase überwindet, wer Haltung einnimmt, mitschwingt und das Ungleichgewicht akzeptiert, wer sich darauf einlässt und sich nicht von der Angst leiten lässt, der wird belohnt. Der schwebt, der ist frei und lebendig.