Testosteron ist beteiligt an der Geschlechtsentwicklung, dem Aussehen und dem Aggressionsverhalten von Männern. Zugleich ist es ein weibliches Sexualhormon. Warum ist das so?
Herr Gahr, Sie sagen, Testosteron macht nicht nur den Mann zum Mann, sondern auch die Frau zur Frau. Wie kommen Sie dazu?
Leider ist es noch immer eine verbreitete Meinung, dass Testosteron ein rein männliches Hormon ist, ein Androgen. Aber auch Frauen produzieren es, zwar in viel geringeren Mengen als Männer, aber es ist für sie lebenswichtig
Wozu brauchen Frauen Testosteron?
Zum einen für den Aufbau von Knochen und Muskeln – genau wie Männer. Vor allem aber brauchen sie es, um Östradiol zu bilden, das stärkste der weiblichen Sexualhormone. Die Umwandlung geschieht in den Eierstöcken, aber auch in anderen Organen, einschließlich des Gehirns. Östradiol stimuliert beispielsweise das Wachstum der Gebärmutterschleimhaut. Ohne Testosteron könnte der weibliche Körper kein Östradiol erzeugen, er wäre unfruchtbar. Bemerkenswerterweise ist aber auch Testosteron direkt, also als Androgen, an der Follikelreifung und dem Eisprung beteiligt.
Wandeln umgekehrt auch Männer Testosteron in weibliche Sexualhormone um?
Ja, auch für Männer hat sich die Natur einen Mechanismus überlegt, wie sie Testosteron zu Östradiol umbauen. Es dient dazu, die Spermienproduktion zu unterstützen und die Fruchtbarkeit aufrechtzuerhalten. Das ist bei uns Menschen so, aber auch bei vielen Tieren. Wie bei Frauen wandelt auch das Gehirn des Mannes in bestimmten Bereichen Testosteron in Östradiol um.STERN PAID Sex über 40 No Penetration 19.53
Sie haben Studien mit Hühnern durchgeführt, um mehr über die Wirkungsweise des Hormons Testosteron zu erfahren. Warum mit dieser Vogelart?
Hühner sind intelligente und soziale Tiere, die geschlechtsspezifische Verhaltensweisen wie das morgendliche Krähen der Hähne aufweisen. Im 19. Jahrhundert hat der Wissenschaftler Arnold Adolph Berthold Hähne kastriert, um zu untersuchen, warum sie krähen. Nach der Kastration war mit dem Krähen Schluss, aber Berthold wusste nicht, dass das Sexualhormon Testosteron im Hoden dafür verantwortlich war.
Wie sind Sie vorgegangen?
Damit Testosteron überhaupt irgendetwas im Organismus bewirken kann, muss es an spezifische Moleküle andocken, sogenannte Androgenrezeptoren. Es ist uns erstmals gelungen, Hühner ohne diese Rezeptoren zu züchten. So konnten wir untersuchen, welche Auswirkungen der Androgen-Signalweg für das Aussehen und das Verhalten der Hühner hat.
Wie haben die Vögel sich verändert?
Bei den jungen Hähnen fehlten der Kamm und die Kehllappen, sie haben nicht mehr gekräht und waren unfruchtbar. Aber die Körpergroße, die Schwanzfeder und der Sporn waren vergleichbar mit denen normaler Hähne. Die Hennen hatten ebenfalls kleinere Kehllappen am Kopf, sie legten aber weder Eier noch hatten sie einen Eisprung, verhielten sich aber andererseits auch nicht wie Hähne. Das zeigt, dass beide Geschlechter das Hormon brauchen, um sich zu entwickeln. Das ist bei Menschen nicht anders. Auch die Reproduktionsfähigkeit der Frau ist sehr stark testosteronabhängig. Das hat man viele Jahre übersehen. Und auch im übrigen Körper bedarf es des Zusammenspiels von Testosteron und Östrogenen, um das typisch Männliche und das typisch Weibliche hervorzubringen.
Sehr selten tritt bei Kindern eine sexuelle Entwicklungsstörung auf, die „Androgenresistenz“. Die Betroffenen haben ein X und ein Y Chromsom, sind also genetisch eigentlich Jungen. Sie entwickeln auch kleine Hoden, die aber in der Bauchhöhle liegen und nicht runterwandern, und produzieren Testosteron. Doch die Rezeptoren reagieren nicht auf das Hormon. Wie entwickeln sich solche Kinder?
Da gibt es eine größere Bandbreite, je nachdem wie stark ausgeprägt die Androgenresistenz ist. Ist der Rezeptor komplett kaputt und reagiert gar nicht mehr auf Testosteron, dann entwickeln die Betroffenen sich äußerlich weitgehend wie Frauen. Sie haben Brüste, eine Vagina, aber keine Eierstöcke, und sie bleiben unfruchtbar. Häufig merken sie erst in der Pubertät, wenn die Menstruation ausbleibt, dass etwas an ihnen anders ist. Dennoch empfinden die meisten der Betroffenen sich als Frauen.
So wie vermutlich die algerische Boxerin und Olympiasiegerin Imane Khelif?
Ja, bei ihr liegt eventuell ein angeborener Enzymdefekt vor. Ein „5-alpha-Reduktase-Mangel“. Betroffene können Testosteron nicht zu Dihydrotestosteron umbauen, was ein noch stärkeres androgenes Sexualhormon als Testosteron ist. Das führt dazu, dass die sexuelle Differenzierung nicht so eindeutig ist. Die Hoden und Penis entwickeln sich in dem Fall nicht oder nicht vollständig. Die Betroffenen sind zunächst intersexuell oder äußerlich weiblich. Während der Pubertät setzt sich aufgrund der Testosteronproduktion häufig die männliche Entwicklung durch. Da das Zusammenspiel von androgenen und östrogenen Mechanismen sehr kompliziert ist, lässt sich aber ohne genaue Genanalyse keine Aussage treffen.PAID sex über 40 Generation z 20.05
Es ist sehr umstritten, unter welchen Bedingungen intersexuelle Menschen an Sportwettbewerben teilnehmen sollen. Derzeit wird der Testosteronwert gemessen, und wenn er über einer bestimmten Schwelle liegt, müssen die Athletinnen ihn senken. Wie sinnvoll ist das?
Ich finde das sehr schwierig. Es könnte ja auch sein, dass jemand keine erhöhten Testosteronwerte hat, aber besonders viele Androgenrezeptoren im Muskelgewebe besitzt, sodass er eine stärkere Muskulatur entwickeln kann. Sollte der dann verpflichtet werden, die Rezeptoren künstlich zu blockieren, um Fairness herzustellen? Sie sehen, es gibt da ganz unterschiedliche Stellschrauben, sie sind nur nicht so bekannt und so gut erforscht wie die Testosteronspiegel und auch viel schwieriger zu messen. Meiner Meinung nach ist der Testosteronspiegel kein geeignetes Maß, um Fairness im Wettkampf zu gewährleisten.