Nach einem Vulkanausbruch im Jahr 1985 in Kolumbien steckte Omayra Sánchez im Schlamm fest. Nach drei Tagen Kampf verstarb sie – nur wenige Minuten vor ihrer Rettung.
Drei Monate vor der Katastrophe hatte der Vulkan Nevado del Ruiz in der Region von Manizales in Kolumbien bereits begonnen, Rauch und Asche auszustoßen. An jenem schicksalshaften Tag, dem 13. November 1985, spuckte er rund 35 Millionen Tonnen glühende Lava und Gestein, sodass rund ein Zehntel des Gletschers auf ihm und die Eis- und Schneemassen auf den umliegenden Bergen zu schmelzen begannen. Eine riesige Flutwelle aus Schlamm, Steinen, Wasser und Asche machte sich mit sechs bis zwölf Metern pro Sekunde auf den Weg ins Tal. Vier Städte, darunter die Kleinstadt Armero mit 29.000 Einwohnern, rund 150 Kilometer nordwestlich von Bogota entfernt, wurden von der gigantischen Schlammlawine einfach verschluckt.
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Es war gegen 23.30 Uhr, als die meisten Menschen in ihren Häusern von der Katastrophe getroffen wurden. Die Behörden hatten die Bevölkerung zwar gewarnt, aber ihnen lediglich geraten, im Haus zu bleiben und alle Fenster zu schließen. Überlebende berichteten Reportern, dass am späten Nachmittag und frühen Abend ein Priester und ein Radiosprecher in Armero den Menschen versicherten, sie seien nicht in Gefahr. Eine gewaltige Fehleinschätzung.
Die Schlammlawine brach gnadenlos über die kleine Stadt herein. Die Folgen waren verheerend. Rund 85 Prozent des Stadtgebiets wurde mit dickem, schwerem Schlamm überflutet, Straßen, Häuser und Brücken brutal zerstört. Die meisten Bewohner hatten keine Chance, der Wucht des Lahar, des Schlamm- und Schuttstroms nach der Eruption, zu entkommen. Mehr als 23.000 Menschen in Armero und in umliegenden Landstrichen verloren in dieser Nacht ihr Leben. Trotz des Ausmaßes der Katastrophe dauerte es Stunden, bis die ersten Rettungsmaßnahmen einsetzten. Überlebende mussten quälend lange auf ihre Rettung warten.
Die 13-jährige Omayra Sánchez kämpft ums Überleben
So wie das Mädchen Omayra Sánchez. Die 13-jährige Schülerin fiel auch dem französischen Fotojournalisten Frank Fournier auf, der zwei Tage nach der Eruption aus New York in Bogotá eintraf. Fünf Stunden Autofahrt und zweieinhalb Stunden Fußmarsch musste er zurücklegen, um in das Katastrophengebiet zu gelangen. Ein Bauer geleitete ihn zu dem Mädchen, erzählte, dass es seit drei Tagen unter seinem zerstörten Haus gefangen war. Sie steckte in einer meterhohen Pfütze fest, nur ihr kleiner Kopf ragte noch heraus. Mit ihren Füßen stieß sie unten im Schlamm an Körper, die nach ihren eigenen Worten nur die Leichen ihres Vaters und ihrer Tante sein konnten. „Die Dämmerung brach gerade an und das arme Mädchen hatte Schmerzen und war sehr verwirrt“, erinnerte sich der Fotograf in einem Gespräch mit der BBC.
Armero nach dem Vulkanausbruch: Die gigantischen Schlammmassen vernichteten eine ganze Stadt
Freiwillige Helfer des Roten Kreuzes und Anwohner hatten immer wieder versucht, sie herauszuziehen, aber etwas unter dem Wasser hatte ihre Beine eingeklemmt, sodass sie sich nicht bewegen konnte. In der Zwischenzeit stieg das Wasser, das das Kind umgab, immer höher, was zum Teil auf die anhaltenden Regenfälle zurückzuführen war. Eine Pumpe war nötig. Doch die fehlte. Wie so vieles.
Immer wieder versuchten Rettungskräfte die kleine Omayra aus ihrer misslichen Lage zu befreien – vergebens
© AFP/
Die Rettungsmaßnahmen, sie waren mehr als chaotisch. Freiwillige und andere Helfer berichteten später von fehlenden Arbeitskräften, Hubschraubern, Krankenwagen, Fachwissen, Medikamenten und so grundlegenden Dingen wie Tragen, Schaufeln und Schneidwerkzeugen, um sich durch die Trümmer zu kämpfen. Sie berichteten auch von Engpässen in den Versorgungsleitungen und von einer sklavischen Einhaltung der Vorschriften, die die Rettungsarbeiten behinderten.
Überreste eines vom Vulkan zerstörten Hauses in Armero
Rettungskräfte des Roten Kreuzes hatten wiederholt an die Regierung appelliert, eine Pumpe zum Senken des Wasserspiegels und andere Hilfsmittel bereitzustellen, um Omayra Sánchez aus ihrer misslichen Lage zu befreien. Die freiwilligen Helfer, vor allem Feuerwehrleute und andere Menschen aus den umliegenden Gemeinden, versuchten verzweifelt, dem kleinen Mädchen zu helfen. Einmal versuchten sie, die Leiche der Tante mit einem von einem Hubschrauber herabhängenden Seil wegzuheben. Aber nichts von dem, was sie taten, brachte dem Mädchen auch nur einen Zentimeter mehr Freiheit.
Schicksal von Omayra Sanchez wird zum Symbol einer Katastrophe
Doch Omayra gab nicht auf, kämpfte tapfer, sprach immerzu mit den Helfern und Journalisten. „Was ist heute für ein Tag?“, fragte sie einmal. Als man ihr sagte, es wäre Freitag, reagierte sie erschrocken: „Oh nein, ich verpasse meine Matheprüfung in der Schule. Ich werde das Schuljahr wiederholen müssen“. Dass ihre Schule nicht mehr stand, dass die meisten ihrer Mitschüler tot waren, dass sie selbst in Todesgefahr schwebte, das war ihr offenbar nicht bewusst. Mit den Minuten und Stunden, die vergingen, wurde ihr kleiner Körper immer schwächer. Ihre kalkweiße Hand, die völlig verschrumpelte und aufgeweichte Haut und ihre fast vollständig blutunterlaufenen Augen mit riesigen, dunklen Augenringen ließen nur erahnen, welchen Qualen der Rest ihres kleinen Körpers ausgesetzt war. An jenem Freitag sagte sie den Männern, die vergeblich versuchten, ihr zu helfen: „Geht Euch jetzt nur etwas ausruhen und kommt dann zurück, um mich herauszuholen.“ Einer der Reporter schrieb dazu später: „Wir gingen weinend weg, wütend, fast mit Hass auf Gott, auf die Menschen und die Natur.“
Inzwischen war Omayras Schicksal zum Symbol einer ganzen Katastrophe geworden. Ihr Foto ging um die Welt. „Bitte, rettet Omayra“, lautete die Schlagzeile auf der ersten Seite der Zeitung „El Tiempo“ in Bogota. Weltweit gab es ähnliche Schlagzeilen. Als am Samstagmorgen auf dem Flughafen von Bogota ein Hubschrauber mit der lang ersehnten Pumpe startklar gemacht wurde, war es bereits zu spät. Das Mädchen verließen die letzten Kräfte. Gegen 9.45 Uhr kippte sie rückwärts in das kalte Wasser. Ein Arm, ihre Nase, ihr Mund und ein Auge verblieben noch über der Wasseroberfläche. Jemand deckte sie mit einer blau-weiß karierten Tischdecke zu.
Die Grabstätte von Omayra Sánchez in Armero ist inzwischen eine Touristenattraktion geworden
Ein von Frank Fournier geschossenes Foto von ihr wurde 1985 zum Pressefoto des Jahres gewählt. „Als ich die Fotos machte, fühlte ich mich völlig machtlos angesichts dieses kleinen Mädchens, das dem Tod mit Mut und Würde ins Auge sah. Sie konnte spüren, dass ihr Leben zu Ende ging. Ich hatte das Gefühl, dass das Einzige, was ich tun konnte, darin bestand, angemessen über den Mut, das Leiden und die Würde des kleinen Mädchens zu berichten. Und zu hoffen, dass dies die Menschen dazu bewegen würde, denjenigen zu helfen, die gerettet worden waren und gerettet werden konnten. Ich hatte das Gefühl, dass ich berichten musste, was dieses kleine Mädchen durchmachen musste.“ Omayra Sánchez starb am 16. November 1985, drei Stunden nach seinem Eintreffen. Ihre Mutter und ihr Bruder kamen lebend davon.
Armero wurde nach der Katastrophe von den Behörden zum Friedhof erklärt, da es sich als unmöglich erwies, rund 17.000 Tote aus der bis zu 20 Meter hohen Schlammschicht zu bergen. Der Ort wurde in einiger Entfernung neu aufgebaut. Heute erinnern nur noch eine Tankstelle und die Überreste einiger Gebäude daran, dass hier einmal eine Stadt war.
Quellen: BBC News, History-Channel, Stern-Archiv, DPA