Der Fotograf Alain Ernoult zeigt in Doppelporträts erstaunliche visuelle Übereinstimmungen bei Tieren und Pflanzen.
Die Sonnenblumen stehen dieser Tage in strahlender Blüte. In unseren Breiten leuchten sie von Juli bis Oktober sattgelb. Wie wir Menschen pflegen auch sie sommerliche Routinen, ihre spießenden Blätter folgen dem Stand der Sonne von deren Auf- bis zum Untergang. Die Pflanze ist, so sagt man herrlich altmodisch, lichtwendig. Ihr Ziel: ultraeffiziente Solarenergie-Gewinnung. Zellstreckungen biegen Blattrippen, drehen die Stiele – nicht jedoch (ein Gerücht!) die großen runden Blütenkörbe, in denen jetzt die gesunden, ölreichen Kerne reifen. Alle Körbe eines Feldes schauen ostwärts. Sie harren der Hummel und der Honigbiene. Dabei ist auch der Blütenkorb voller Wunder. Schiffsschraubengleich sind in seinem Herzen die vielen kleinen Blüten angeordnet, in weit geschwungenen, einander durchkreuzenden Bögen. 34 Spiralarme machen eine Linksdrehung, 55 kurven nach rechts.
Wie auch die Anordnung der Samen in einem Pinienzapfen, wie das Verhältnis von Zweigen zu Ästchen zu Ästen zu Stämmen bei Bäumen gehorchen Wuchs und Form des Lebendigen mathematischen Gesetzmäßigkeiten. In diesem Beispiel einer Regelmäßigkeit, die den Namen eines italienischen Mathematikers trägt, der vor 800 Jahren lebte: Fibonacci alias Leonardo von Pisa. Der entdeckte, dass eine Reihe von Zahlen, die jeweils die Summe der beiden vorangehenden Zahlen sind (also: 0, 1, 1, 2, 3, 5, 8, 13, 21, 34, 55 etc.) ein Wachstumsprinzip der Natur beschreibt. Mit ihm berechnete Fibonacci zunächst die rasante Vermehrung von Kaninchen. Er starb um 1240, blieb aber unvergessen: In den folgenden Jahrhunderten zeigte sich wieder und wieder, wie tief sein Gesetz die Welt des Lebendigen formt. Die Bauanleitung von Homo sapiens sieht fünf Finger pro Hand vor, eine Fibonacci-Zahl – nicht vier, wie bei den meisten Comicfiguren.
Wenn es aber Regeln gibt, denen die Formen des Lebens folgen, wird es Ähnliches hervorbringen und Muster in ihrer Vielfalt zeigen, die uns lehren, wie die Evolution aus einer gemeinsamen Wurzel das gewaltige Wimmelbild unseres Planeten schuf. Alain Ernoult, einer der bedeutendsten Bildreporter seiner Zeit, hat sich diese Einsicht künstlerisch erschlossen. Er suchte gezielt, während all seiner Reisen und in seinem Archiv, nach Zwillingen in der Natur. Nach dem Ungleichen, das gleich erscheint, weil am Ende eben doch alles Teil einer einzigen, einer gemeinsamen Welt ist.
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Wir Menschen sind hervorragende Muster-Erkenner. Instinktiv lesen wir Mimik und Gestalt in Gesellschaft und Natur. Wir haben ein hochpräzises Gefühl für Proportionen, erkennen den Goldenen Schnitt in Gemälden und Gesichtern und finden sie schön, wenn sie intuitiven Formgesetzen folgen. Ähnlichkeit erkennen wir binnen Hundertstelsekunden: Mal spiegeln Regeln wie die des Fibonacci sie wider, mal Gesetze der Physik wie in den Stromlinienformen von Rochen und Mauersegler. Mal wirkt reiner Zufall, Ausdruck des Chaotischen, Unberechenbaren und Vergänglichen in der Natur, wie beim Wölkchen, das exakt einem tropischen Fisch zu gleichen scheint.
Für Alain Ernoult liegt in der visuellen Paarbeziehung zwischen lebenden Wesen, in der Gemeinsamkeit ihres Geformtseins durch Naturgesetz und durch geteilten Lebensraum, eine profunde Botschaft: Seine Arbeit „Doppelgänger der Natur“, aus der diese Seiten einen Ausschnitt präsentieren, ist von tiefem Respekt vor dem ökologischen Charakter allen Lebens geprägt – entsprechend dem Geist, den auch seine große Schwarz-Weiß-Reportage zum Artensterben ausdrückte, die der stern Ende 2022 gezeigt hat. Fünf Jahre lang war Ernoult damals um die Welt gereist, um dem enormen, menschengemachten Verlust an natürlicher Vielfalt Gesichter zu geben. Von Amphibien und Reptilien, von Fisch und Vogel, in Porträts aus unserem nächsten Verwandtenkreis, von Säugetieren also wie dem Eisbär, dem Orang-Utan, dem Flusspferd.
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Varianten der Ähnlichkeit
Diesem Flusspferd, mit seinem im 150-Grad-Winkel aufgerissenen Maul, begegnen wir hier wie damals schon – nun aber in Farbe und im optischen Duett mit einer Orchidee. Der Gleichklang der Erscheinung ist es, der dabei fasziniert. Die Bögen, die Schwünge, das sich der Außenwelt Öffnende – hier zum Drohen und zum Schlingen, dort, um Bestäuber einzuladen, Falter, Biene oder Kolibri. Obschon etwa die Honigbiene einen Sehsinn von hundertfach geringerer Auf-lösung besitzt als wir, kann sie Muster und Farbe der Blüten jener Pflanzen, die sie mag, perfekt erkennen. Die Formen von Orchidee und Hippo-Maul, dräuende Hauer, lockende Farbenpräsentation, sind Werkzeug und Signal zugleich.
Ernoults Doppelporträts spielen mit allen Varianten der Ähnlichkeit in der Natur: Bauprinzip-Gleichheit bei Walfluke und der Flügelnuss eines Ahornbaums, die sich optimal an hydro- und aerodynamische Strömungen angepasst haben. Parallele Funktionalität bei Chamäleonschwanz und Farnwedel, die sich nach gleichem Muster rollen. Bewusste, doch von der Natur inspirierte Gestaltung von Künstlerhand beim botanischen Zwilling des Gorillas, einem geformten Baum. Mit einer einzigen Ausnahme, jener fischförmigen Kumuluswolke, die er auf Malta aufnahm, ist alles, was in diesen Bildern als Zwilling eines anderen Wesens erscheint, lebendig. Paare wie die junge Tüpfelhyäne und ihr scheinbares Spiegelbild im Baum zeigen: Ernoult ehrt die Majestät der Natur, scheut aber nicht den Humor. Und wie schon in seiner Hommage an die bedrohten Arten appelliert er dringlich an uns, das Reich des Lebens, ohne das wir nicht sein können, endlich achtsam zu bewahren.