Nach diversen Beziehungs-Enttäuschungen hat Annesophie T. einen Mann kennengelernt, der perfekt zu sein scheint. Aber wie kann sie sich sicher sein? Julia Peirano weiß es.
Liebe Frau Peirano,
ich bin 24 und hatte in den letzten Jahren einige Enttäuschungen mit Männern. Der eine wollte sich nach einem Jahr dann doch nicht festlegen und hat sich getrennt, der nächste ist in eine andere Stadt gezogen und wollte Freundschaft plus. Dann hatte ich was mit einem etwas älteren Mann, der sich nur gemeldet hat, wenn er Sex wollte und sagte, er könne sich gerade auf nichts einlassen.
Vor ein paar Monaten habe ich über den Handball einen Mann (Moritz) kennengelernt, der ganz anders ist. Er ist interessiert und öffnet sich, hat mir sogar handgeschriebene Briefe geschickt, während er mit seiner Familie im Urlaub war. Er möchte mich regelmäßig sehen und denkt sich süße Sachen aus. Ich finde, dass er dabei ein gutes Tempo hat. Er überfällt mich nicht, aber er hält sich auch nicht übertrieben zurück. Er fragt mich vieles, zeigt großes Interesse und erzählt auch von sich, seiner Vergangenheit und seinem Leben.
Ich fühle mich mit ihm sehr wohl. Auch als er drei Wochen im Urlaub war und ich genau danach mit Freunden wandern war, sind wir uns eher näher gekommen durch Videocalls und Nachrichten.
Ich möchte ihn gerne fragen, ob wir zusammen sind und ob es exklusiv ist zwischen uns. Ich würde ihm auch gerne sagen, dass ich zurzeit nichts mit anderen Männern habe und auch nicht das Bedürfnis danach verspüre. Ich treffe im Moment auch nicht den Freundschaft-Plus-Mann, weil ich Moritz und mir eine Chance geben will. Aber ich weiß nicht, ob ich diesen Schritt gehen soll. Manche Männer sind dann ja verschreckt, wenn es ausgesprochen wird.
Er hat bislang nichts über andere Frauen gesagt und ich weiß nicht, ob ich da überhaupt nachfragen sollte. Was raten Sie mir?
Viele Grüße
Annesophie T.
Liebe Annesophie T.,
ich freue mich sehr für Sie, dass Sie nach den Enttäuschungen mit Männern in den letzten Jahren jetzt einen Mann kennengelernt haben, mit dem die erste Phase ganz mühelos und selbstverständlich läuft. Und genau so sollte es sich auch anfühlen, wenn Sie jemanden kennenlernen! Die Art, wie Sie und Moritz miteinander umgehen, gibt Hinweise darauf, dass er einen sicheren Bindungsstil hat und in der Lage ist, zu vertrauen und sich anzuvertrauen.
Es gibt vier verschiedene Bindungsstile, die Menschen in ihrer Kindheit durch die Erfahrungen mit engen Bezugspersonen entwickeln und die sich in späteren Liebesbeziehungen durch vertrauensvolle oder auch traumatische Erfahrungen weiter ausformen.Peirano Oktober 5
Die sichere Bindung ist durch die Fähigkeit einer Person gekennzeichnet, stabile und liebevolle Beziehungen aufzubauen, in denen man sich vertraut, Liebe schenkt und annehmen und Nähe zulassen kann. Gleichzeitig werden auch die Grenzen und Bedürfnisse des anderen nach Autonomie respektiert und jeder hat Freiräume, ohne dass (unangemessene) Eifersucht entsteht.
Beziehung: Die anderen drei Varianten gehören zu den unsicheren Bindungsstilen
Der unsicher-vermeidende Bindungsstil zeichnet sich durch große Ängste vor Nähe aus und die Betroffenen vermeiden es, sich auf eine nahe und verbindliche Beziehung einzulassen, halten andere auf Distanz und machen recht kompromisslos „ihr eigenes Ding“, ohne darauf zu achten, was die potenziellen Partner*innen sich wünschen.Der unsicher-ambivalente Bindungsstil ist von starken Verlustängsten gekennzeichnet. Menschen mit diesem Bindungsstil sind immer auf der Suche nach Bestätigung. Bleibt diese aus oder genügt ihnen nicht, empfinden sie starke Unsicherheit, Verzweiflung und den Drang, Bestätigung zu bekommen. Der desorganisierte Bindungsstil ist durch extrem inkonsistentes Verhalten gekennzeichnet. Einerseits besteht ein starker Wunsch nach Nähe und Verschmelzung, andererseits leiden die Betroffenen unter starker Angst vor Zurückweisung, Verletzung und Angst vor der Nähe, die eben auch mit einer gewissen gefühlten Abhängigkeit einhergeht. Dieser Bindungsstil ist mit sehr großem Leid für alle Beteiligten verbunden, da die Betroffenen nach Momenten intensiver Nähe oft plötzlich die Reißleine ziehen und sich zurück ziehen, die Beziehung in Frage stellen oder gar abbrechen, was beim Gegenüber Fassungslosigkeit, Unverständnis und Ängste auslöst.
Stefanie Stahl beschreibt diesen Typ in ihrem Buch: „Jein. Bindungsängste erkennen und bewältigen“
Meistens merkt man schon in den ersten Monaten des Kennenlernens, welchen Bindungsstil das Gegenüber hat, und bei allen drei unsicheren Bindungsstilen gibt es typischerweise Momente der Unklarheit („warum macht er/sie das?“), der Kränkung durch Zurückweisung oder Missachtung. Es gibt oft Probleme mit Grenzen, die überschritten werden. Bei einigen unsicheren Bindungsstilen entsteht das Gefühl, der andere klammere sich an einen und respektiere die eigenen Grenzen nicht, bombardiere einen mit eifersüchtigen Unterstellungen oder greife zu emotionaler Erpressung („wenn du es ernst meinen würdest, würdest du…“).
Die Folge ist oft ein heimlicher Machtkampf, in dem ein Partner sich unterlegen fühlt und taktisch darüber nachdenkt, wie er oder sie sich verhalten sollte. Wann darf ich ihm/ihr schreiben, darf ich über meine Gefühle sprechen oder sollte ich sie hinter dem Berg halten, warum meldet er/sie sich nicht und sollte ich das ansprechen oder überspielen?
Auf den Punkt gebracht, beginnen diese Beziehungen oft anstrengend und bleiben es häufiger über längere Zeit oder gar dauerhaft.
Sie hingegen erleben jetzt, dass Ihre neue Beziehung ganz einfach ist. Sie schreiben sich, hören regelmäßig voneinander, vertrauen sich in passenden Schritten einander an und haben das Gefühl, dass alles ganz einfach und selbstverständlich passiert und entstehen darf. Und gleichzeitig darf jeder reisen und Freiräume genießen, ohne dass das zum Problem wird.
Ich finde es sehr hilfreich, Liebe im Sinne von Bell Hooks (Empfehlenswertes Buch: „Alles über Liebe – neue Sichtweisen“) eher als eine Haltung und ein Verhaltensmuster zu betrachten als „nur“ ein Gefühl. Liebe ist ein generelles Wohlwollen, Vertrauen, Achtsamkeit, Respekt, die Bereitschaft, aneinander zu wachsen und vieles mehr.
In diesem Sinne würde ich Ihnen empfehlen, einmal darüber nachzudenken, wie Ihre Beziehung mit Moritz in zehn Jahren aussehen würde, wenn alles gut läuft. Wie hätte sich das Vertrauen zwischen Ihnen weiterentwickelt, wie offen und ehrlich wären Sie miteinander? Anschließend gehen Sie von dort zurück in die Jetztzeit und fragen sich, wie dieses Vertrauen eingepflanzt wurde wie ein Blumensamen und wie es gewachsen ist über all die Jahre.
Wenn Sie eine Vorstellung davon haben, fragen Sie sich, wie gut es zum aktuellen Moment, also zur Pflanzzeit der Vertrauenspflanze, passen würde, wenn Sie jetzt von sich andeuten, dass Sie im Moment nichts mit anderen Männern haben. Wie würde Moritz das auffassen? Oder wie würden Sie es auffassen, wenn er das andeuten würde? Hätte es nicht auch einen Andeutung von „Solange es mit uns gut läuft, mache ich nichts mit anderen“? Wäre es passend, überhaupt daran zu denken, etwas mit anderen zu haben, wo es so schön mit Ihnen ist? Was würde dieser Satz mit der Vertrauenspflanze anstellen?
Wie könnten Sie es so formulieren, dass Sie unmissverständlich sagen: Ich pflanze diese Vertrauenspflanze zwischen uns und schütze sie, damit sie wachsen kann?
Es ist ja so, dass Vertrauen sich auch in einer Beziehung durch die Aktionen und Reaktionen des Gegenübers und durch die Botschaften und Zeichen, die er einem gibt, entwickelt. Ihre früheren Männer haben Ihnen signalisiert, dass sie nicht verbindlich und voll und ganz hinter der Beziehung mit Ihnen stehen. Einer zog weg, einer wollte Freundschaft plus (also nur die positiven Seiten), einer wollte nur Sex, wenn ihm gerade danach war.
Wie würde es sich anfühlen, wenn jemand zu Ihnen sagt: Ich lasse mich darauf ein, dich in Ruhe und ungestört kennenzulernen, weil mir das sehr wichtig ist?
Natürlich können Sie beide nicht wissen, wie gut Sie zueinander passen und ob Ihre Beziehung langfristig das ist, was Sie sich wünschen. Aber Sie können sich Sicherheit und Vertrauen geben, indem Sie beide jetzt mit voller Achtsamkeit versuchen, Ihre Beziehung aufzubauen.
Und wie würde es in diese Phase passen, wenn Moritz mit einer oder mehreren anderen Frauen schlafen würde oder Sie irgendetwas mit jemand anderem hätten? Wäre das nicht das klarste Signal, dass einer von Ihnen sich nicht einlassen möchte?
Also: Fassen Sie sich ein Herz und sagen Sie ihm, wie kostbar Ihnen das ist, was sich zwischen Ihnen gerade entwickelt. Dass es für Sie selbstverständlich ist, sich darauf zu konzentrieren. Ich kann mir vorstellen, dass Sie damit bei Moritz viel Respekt und Vertrauen erzeugen.
Wann Sie beide sich als Paar definieren, ist eine andere Sache. Das ist ja in Ihrer Generation andersherum als früher, wo man in der Regel erst ein Paar wurde und dann erst Sex hatte. Heute hat manerst Sex und macht alles, was Paare tun (zusammen verreisen, über alles reden, kochen) und definiert sich erst später als Paar.
Damit können Sie sich ja noch Zeit lassen, bis es sich für beide richtig anfühlt.
Herzliche Grüße
Julia Peirano