Inga Gehricke und Lars Mittank werden seit Jahren vermisst, nun suchen die Angehörigen noch einmal den entscheidenden Hinweis – in den Supermarktregalen des Landes.

Neuneinhalb Jahre ohne ihre Tochter. Neuneinhalb Jahre Schmerz. Er sei nie abgeklungen, sagt Victoria Gehricke. Aber er habe sich verändert, habe sich in einen ständigen Begleiter gewandelt, habe sich festgesetzt. Der Schmerz sei chronisch geworden.

Eins aber hat sich in all diesen Jahren nicht verändert: ihr Gefühl, dass Inga noch lebt. Auch deshalb will sie in diesen Tagen einen weiteren Versuch unternehmen, den entscheidenden Hinweis zu finden, der zu ihrer vermissten Tochter führt.

Inga und Lars Mittank: zwei der rätselhaftesten Vermisstenfälle des Landes

Als Inga am 2. Mai 2015 in der Nähe von Stendal in Sachsen-Anhalt verschwand, war sie fünf Jahre alt, ein Mädchen mit blonden Zöpfen und riesigen Zahnlücken, gut 100 Zentimeter hoch. Sie liebte Märchen und Volkslieder und die Melodie von Marlene Dietrichs „Johnny, wenn Du Geburtstag hast“. Heute wäre sie 15, ein Teenager, und vielleicht schon größer als ihre Mutter

Was Victoria Gehricke durchlebte und immer noch durchleben muss, lässt sich allenfalls erahnen. Ihr Schicksal ist extrem: Sie waren auf einem Familienausflug, eben noch hatte sie ihre kleine Tochter gesehen, plötzlich war sie weg – und tauchte nicht mehr auf. Nicht nach Stunden, nicht nach Tagen, nicht nach Jahren. Bis heute sind die Umstände von Ingas Verschwinden nicht geklärt, nicht einmal im Ansatz

Dieses „Aging-Bild“ von Inga zeigt, wie sie heute aussehen könnte.
© Polizeiinspektion Stendal

Victoria Gehrickes Ehe hat diese Katastrophe nicht überlebt. Nicht zuletzt, weil nur sie das Gefühl hatte, ihre Tochter lebt, während Ingas Vater schon früh vom Schlimmsten ausging. Und sie überhaupt von Anfang an unterschiedlich mit dem Schicksalsschlag umgegangen waren. Die Kluft zwischen ihnen war immer größer geworden. 

Aber beide kämpfen sie unermüdlich weiter um Aufklärung. So wie auch jetzt.

PAID STERN 2020_29 „Einen vertuschten ­Unfall könnte ich besser aushalten“ 1500

In diesen Tagen werden Smoothie-Glasflaschen mit den Bildern von Inga und dem ebenfalls schon viele Jahre vermissten Lars Mittank in die Kühlregale von unzähligen Supermärkten geräumt. Nicht nur in Deutschland, sondern auch in Österreich und der Schweiz.

Der Vorschlag für die ungewöhnliche Suchaktion kam vom Bonner Hersteller der Smoothies, von „True Fruits“. Victoria Gehricke und ihr Ex-Mann stimmten zu. Die Mutter brauchte für ihre Entscheidung allerdings Zeit. 

„Ich musste mich erst an den Gedanken gewöhnen, dass Ingas Bild wochenlang auf einem Getränk im Supermarkt zu sehen sein wird“, sagte sie dem stern. „Schließlich überwog aber doch der Gedanke, dass ich die Chance, Menschen in drei Ländern zu erreichen, nicht verstreichen lassen darf. Und es sind ja nicht nur die Vermisstenanzeigen auf den Flaschen. Auch Influencer werden mit einbezogen, Instagram und soziale Netzwerke sind Teil der Suchaktion. Das Schicksal von Inga wird die Menschen hoffentlich wieder beschäftigen.“

Die Hoffnung: Irgendjemand erinnert sich an eine bislang vermeintlich unbedeutende Beobachtung

Was aus ihrer Sicht noch dafür sprach: „Die Informationen sind leicht zugänglich. Unter welchen Umständen Inga verschwand, ist schon beim Einkaufen auf der Flasche nachzulesen. Und der Hinweisgeber muss nicht erst zur Polizei gehen, sondern kann sich auf unserer Homepage inga-sucht.de direkt bei uns melden. Auch über einen QR-Code auf der Flasche. Das ist alles sehr niedrigschwellig gehalten. Und es wäre nicht der erste Fall, der durch einen Hinweis nach Jahren doch noch aufgeklärt wird, weil jemand eine bislang vermeintlich unbedeutende Beobachtung plötzlich doch für wichtig hält und mitteilt.“

Victoria Gehricke, die Mutter von Inga, gibt die Hoffnung nicht auf. Sie glaubt, dass Inga noch lebt
© Victoria Gehricke

Auf den 750-Milliliter-Flaschen zu sehen sind neben einem kurzen Text zu den Vermisstenfällen jeweils zwei Fotos: Das eine zeigt Inga und Lars, wie sie zum Zeitpunkt ihres Verschwindens aussahen. Das andere, wie sie heute aussehen könnten. Das so genannte Aging-Bild von Inga wurde von LKA-Experten aus einem anderen Bundesland erstellt. Eine Hoffnung von vielen von Victoria Gehricke ist, „dass Inga sich zumindest auf einem der Fotos erkennt und Kontakt zu uns aufnimmt.“

Auf den Glasflaschen werden sowohl im Fall von Inga als auch im Fall von Lars 50.000 Euro Belohnung ausgesetzt – für Hinweise, die am Ende tatsächlich zu ihnen führen. Bei Inga setzt sich die Summe aus 25.000 Euro von der Polizeiinspektion Stendal und 25.000 Euro von „True fruits“ zusammen. Bei Lars sind allein 40.000 Euro von seiner Mutter ausgelobt, zehn von der Smoothie-Firma.

Die Idee zur Vermisstensuche auf Lebensmittelverpackungen stammt aus Amerika

„Das ist viel Geld, auch ich setze da ein Stück Hoffnung rein“, sagt Victoria Gehrickes Anwältin Petra Küllmei. „Soziale und kriminelle Strukturen können sich verändern, vielleicht redet heute jemand, der damals Mitwisser war, und gibt Informationen preis, die er bislang für sich behalten hat.“

Die Idee kommt ursprünglich aus Amerika. In den 80er-Jahren wurde dort mit Fotos auf Milch- und Brötchentüten nach vermissten Kindern gesucht. Eines der ersten Kinder, dessen Gesicht auf einer Milchtüte gedruckt wurde, war der sechsjährige Etan Platz, der 1979 auf dem Weg zur Schulbushaltestelle verschwunden war. Später wurde auf diese Art von Vermisstensuche verzichtet, weil Psychiater davor warnten, damit würde Kindern schon beim Frühstück unnötig Angst gemacht werden. 

Das Zeitfenster, in dem Inga am 2. Mai 2007 verschwand, ist klein, es muss zwischen 18.30 und 18.45 Uhr passiert sein. Die Gehrickes trafen sich an diesem Tag mit zwei befreundeten Familien auf dem Wilhelmshof, westlich von Stendal. Einer der Freunde arbeitete dort. Und von ihrem Heimatort Schönebeck lag der Hof nur eine gute Autostunde entfernt. Der Wilhelmhof ist eine Einrichtung der Diakonie, in der ehemals Suchtkranke leben, außerdem Menschen mit geistiger oder körperlicher Behinderung. Mitten im Wald gelegen, ein paar Häuser, Butterblumenwiese, Kaninchen. Erst im Laufe der Ermittlungen erfuhren die Eltern, dass dort auch ehemalige Straftäter ein Zuhause gefunden haben. Unter ihnen Leute, die Kapitalverbrechen begangen hatten.

1800 Kinder gelten in Deutschland als vermisst

Victoria Gehricke sah ihre Tochter das letzte Mal kurz nach 18 Uhr vor dem Haus der Gastgeber, der Vater Jens-Uwe Gehricke beobachtete Inga noch ein paar Minuten später auf dem Fußweg, der vom Haus zum Gelände neben dem Sportplatz führt, auf dem abends alle grillen wollten. Inga schleppte zwei Anderthalb-Liter-Wasserflaschen. Sie wollte mithelfen bei den Vorbereitungen. Andere Kinder beobachteten noch, wie sie die Flaschen neben dem Grill abstellte und dann den Rückweg antrat. Nicht einmal 100 Meter wären es bis zum Haus gewesen. Aber sie kam nie dort an. 

Es wurde schnell bemerkt, dass sie fehlt, zunächst dachten alle, sie ist in den Wald gelaufen, und suchten dort nach ihr. Dann wurde die Polizei gerufen, Hundertschaften, Hubschrauber und Hunde waren tagelang im Einsatz. Nach fünf Tagen fuhr die Familie nach Hause. Ohne Inga.

Am 1. Januar 2024 waren laut Bundeskriminalamt in Deutschland knapp 10.000 Menschen im Informationssystem der Polizei („Inpol“) als vermisst registriert. Täglich werden etwa 200 bis 300 Fahndungen neu erfasst, etwa die gleiche Anzahl wird täglich gelöscht, weil sie sich erledigt haben.  Länger als ein Jahr vermisst werden nur etwa drei Prozent der als verschwunden Gemeldeten. 

Kinder vermisst 11.56

Etwa die Hälfte aller Vermissten sind Kinder und Jugendliche. Bei den Kindern liegt die Aufklärungsquote –  über die vergangenen sechs Jahre betrachtet – bei 99,8 Prozent. Anfang des Jahres waren in Deutschland, gerechnet ab dem frühesten registrierten Vermisstendatum 01.02.1953, insgesamt rund 1800 ungeklärte Fälle vermisster Kinder erfasst. Mehr als zwei Drittel von ihnen sind unbegleitete Flüchtlinge, Dauerausreißer oder sie wurden ihren Sorgeberechtigten entzogen. Aber unter den 1800 sind eben auch Kinder wie Inga.

Schon 2016, im Jahr nach ihrem Verschwinden, drohten die Ermittlungen einzuschlafen. Aus Sicht der Polizei gab es zu dem Zeitpunkt keine neuen Ermittlungsansätze mehr, die Akte wurde – zumindest vorläufig – zugeklappt. Zum Entsetzen von Ingas Angehörigen.

Sie und ihre Anwälte kämpften darum, dass weiter ermittelt wird. „Unser Ziel war immer, den Fall weg von den Ermittlern in Stendal zu einer neuen Ermittler-Gruppe zu bekommen, die von außen noch einmal ganz neu und unbefangen auf alle bisherigen Ermittlungen schaut“, sagt Anwältin Petra Küllmei. „Und das haben wir erreicht.“ Der Anwalt von Ingas Bruder wandte sich an den Innenausschuss des Landtags von Sachsen-Anhalt. Nachdem mehrfach dazu beraten worden war, wanderte der Fall tatsächlich in eine Cold-Case-Einheit in Halle. 

Fall Inga Interview Ermittler Anette Lache_11Uhr

Seit Juni vergangenen Jahres befassen sich acht Ermittler tagtäglich mit nichts anderem. Petra Küllmei: „Das sind junge, engagierte Leute, die sich freiwillig gemeldet haben. Sie haben die Akten von Stendal nach Halle geholt – 177 Leitzordner mit mehr als 2200 Spuren – und alles digitalisiert und durchgearbeitet. Seither waren schon zwei Mal Hundertschaften für weitere Durchsuchungen auf dem Wilhelmshof. Und kürzlich stand ein Teich in der Nähe im Fokus. „Auch den neuen Hinweisen, die es jetzt sicher geben wird, werden sie nachgehen“, sagt die Anwältin.

Zum Team der Familie und ihrer Anwälte gehören zudem zwei Privatermittler, die unter anderem prüfen, ob es Zusammenhänge geben könnte zu anderen Fällen, in denen Kinder vermisst oder entführt worden sind. Auch zum Fall „Maddie“, dem kleinen Mädchen, das im Jahr 2007 aus einer Ferienanlage in Portugal verschwunden war.

Lars Mittank, der andere Vermisste auf den Smoothie-Flaschen, war schon erwachsen, als sich im Sommer 2014 seine Spur verlor: 28 Jahre alt, ein netter, hilfsbereiter junger Mann, 1,80 groß, sportlich. Er lebte und arbeitete damals in Wilhelmshaven im Kohlekraftwerk. 

PAID CRIME 38 Lars: vermisst 20:14

Er wollte nur für ein paar Tage in den Urlaub, mit Freunden Party machen am „Goldstrand“ von Bulgarien. Ballermann für kleines Geld, feiern, chillen, baden. Doch er konnte am 7. Juli 2014 nicht mit den anderen zurückfliegen, weil ein Arzt einen Trommelfellriss bei ihm festgestellt und ihm geraten hatte, lieber nicht ins Flugzeug zu steigen, sondern erst einmal ein Antibiotikum zu nehmen. Der Arzt wies ihn zudem in ein Krankenhaus ein. Weil er dort nicht aufgenommen wurde, mietete er sich in einem billigen Hotel im Armenviertel von Warna ein. Nachts rief er seine Mutter an und sagte, irgend etwas in dem Hotel sei sehr merkwürdig. Sandra Mittank war beunruhigt, sie buchte ihrem Sohn einen Flug noch für den 8. Juli. Und sicherheitshalber auch noch eine Busverbindung.

In einem weiteren nächtlichen Telefonat erzählte er ihr, er sei in einem Versteck, vier Männer hätten ihn verfolgt. Später ergab die Funkzellenauswertung, dass Lars Mittank tatsächlich das Hotel in der Nacht verlassen hatte.

Und er war auch noch am Flughafen, drei weitere Male telefonierte er von dort aus mit seiner Mutter. „Er habe es geschafft, sagte er, er sei erleichtert. Er war völlig klar, als er mit mir sprach“, sagte Sandra Mittank im Gespräch mit dem stern.

Auch Sandra Mittank glaubt, dass ihr Sohn Lars noch leben könnte
© FLM-Team

Sicherheitshalber wollte der 28-Jährige noch einmal zum Flughafenarzt gehen. Nach 41 Minuten kam er aus dessen Behandlungsraum, das zeigen Überwachungskameras. Ohne sein Gepäck rannte er kurz nach zehn Uhr morgens Richtung Ausgang – und wie sich später herausstellte, auch ohne sein Handy. Zeugen sahen noch, wie er über den Flughafen-Parkplatz ging, sich erst hinter einem Bus zu verstecken schien, und schließlich über einen Zaun kletterte. Dann verschwand er in einem Sonnenblumenfeld. Seither wird er vermisst. Seither gibt es mehr Fragen als Antworten.

Wie Victoria Gehricke geht auch Sandra Mittank davon aus, dass ihr Kind noch lebt. Wochen nach seinem Verschwinden will ihn eine junge Frau noch in der Gegen des Flughafens gesehen haben, dort gibt es Wald. „Ich bin mir sicher, er könnte selbst dort überleben“, sagt Sandra Mittank. „Er ist handwerklich begabt, kann angeln. Und ich glaube an seine Kraft.“ Auf die Frage, was ihr all die Jahre Kraft gegeben hat, sagt sie: „Die Hoffnung.“

Auch Sandra Mittank sieht in der Smoothie-Aktion eine neue Chance, eine Spur zu finden, die zu ihrem Sohn führt. Schon vor Jahren hatte sie von den Suchbildern auf Milchtüten in den USA gehört. „Da wusste ich schon: Wenn sich mir die Chance bietet, werde ich sie ergreifen.“

Auch für den Smoothie-Hersteller dürfte die jetzige Aktion nicht von Schaden sein. Die Vermisstenanzeigen dürften nicht nur die Bekanntheit von Inga und Lars steigern, sondern auch die der Firma. Und ihr positivere Presse bescheren als manch andere Kampagne. 2019 warfen Medien der Firma vor, mit sexistischer und rassistischer Werbung auf ihren Flaschen provozieren zu wollen. Damals ging es um eine Kampagne in Österreich. True Fruits formuliert ihre Marketingstrategie dem stern gegenüber so: „Wir sind kein gesichtsloses Unternehmen und kommunizieren so, wie wir es auch privat tun würden – mal sind wir lustig, mal ernst. So schreiben wir mal Schabernack auf unsere Flaschen, mal widmen wir uns Themen, die uns persönlich beschäftigen.“

Die Familie von Inga und die Mutter von Lars hoffen auf viele neue Hinweise in den nächsten Wochen – und eine Spur, die der quälenden Ungewissheit endlich ein Ende setzt.