Patienten sollen für die AU-Bescheinigung wieder in die Praxis kommen. Das fordert Finanzminister Christian Lindner. Ist er nur vergesslich – oder handelt er aus Kalkül?

Kurze Gedächtnisübung: Was passierte vor etwa fünf Jahren in China? Richtig! Die ersten Menschen erkrankten an einer damals unbekannten Virusinfektion, die über die Atemwege übertragen wurde. Panik erfasste die ganze Welt, bald kursierten horrende Zahlen dazu, wie viele Menschen schwer erkranken oder gar sterben würden. 

Wir wollen nicht tiefer in die Debatte einsteigen, ob die Befürchtungen berechtigt oder gewisse Schutzmaßnahmen übertrieben waren. Eine Idee aber wurde damals geboren, die ganz sicher vernünftig war: Hochinfektiöse sollten nicht die Hausarztpraxen stürmen, weil sie Krankschreibungen brauchen.

Hochinfektiöse Patienten im Wartezimmer gefährden andere

Denn in den Wartezimmern sitzen auch Patienten, die wegen chronischer Krankheiten wie Krebs oder ihres hohen Alters besonders gefährdet sind. Deshalb wurde eine Ausnahmeregelung auf den Weg gebracht, die bei Corona-Verdacht eine telefonische Krankschreibung erlaubte. 

22: Grippesaison  Belastung in Praxen steigt – c0a49271e218ffdf

Das war längst überfällig. Denn Menschen, die zu den Risikogruppen zählen, sind in den Praxen auch durch andere Infektionen bedroht, allen voran der Grippe.

Aus solchen Erwägungen beschloss das oberste Entscheidungsgremium im deutschen Gesundheitswesen, der Gemeinsame Bundesausschuss, aus der Ausnahme die Regel zu machen – unter gewissen Voraussetzungen: Die Patienten müssen in der jeweiligen Arztpraxis bereits bekannt sein. Zudem ist die telefonische Krankschreibung nur für Bagatellerkrankungen wie Atemwegs- oder Magen-Darminfektionen gedacht. Krankheiten mit schwerer Symptomatik müssen durch eine persönliche Untersuchung abgeklärt werden. Die Erstbescheinigung über eine Arbeitsunfähigkeit nach Telefonkontakt darf für bis zu fünf, nach Videosprechstunde bis zu sieben Kalendertage ausgestellt werden.

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Die neue Regelung hat den schönen Nebeneffekt, dass sie die in der Grippe- und Erkältungssaison überrannten Hausarztpraxen auch bürokratisch entlastet. Eine Win-win-Situation für Ärzte und Patienten also. Die Regelung ist weitsichtig. Denn es ist nur eine Frage der Zeit, bis die nächste Pandemie über die Welt kommt.

Fehlzeiten-Anstieg nicht durch telefonische Krankschreibungen verursacht

Trotzdem kämpft Finanzminister Christian Lindner (FDP) erbittert dafür, die Regelung wieder abzuschaffen. Auch Arbeitgeberverbände fordern das schon länger. Die Debatte nahm an Fahrt auf, nachdem Deutschlands größte Krankenkasse, die AOK, im aktuellen Fehlzeitenreport vor drei Wochen einen neuen Spitzenwert von 225 Arbeitsunfähigkeitsfällen je 100 erwerbstätigen AOK-Versicherten vermeldete. Und das noch vor der Erkältungs- und Grippewelle im Herbst, die Zahl könnte also noch steigen.

Zum Vergleich: Im Durchschnitt der Jahre 2014 bis 2021 kamen auf 100 Versicherte nur knapp 160 Krankheitsfälle pro Jahr. Wesentlicher Treiber dieser Entwicklung sind Atemwegserkrankungen, außerdem psychische Erkrankungen. In seltener Geschlossenheit aber sind sich Ärzteverbände und Krankenkassen einig: Die Möglichkeit der telefonischen Krankschreibung ist es eben gerade nicht, die die Entwicklung befeuert. Das zeigt auch eine aktuelle Studie des Zentrums für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW), für die die Fehlzeiten zwischen 2020 und 2023 analysiert wurden.

Vielmehr könne den AOK-Experten zufolge die Einführung der elektronischen Krankmeldungen eine Ursache für den Anstieg sein. Früher nämlich bekamen Patienten drei Bescheinigungen ausgehändigt, von denen sie eine an die Krankenkasse schicken sollten – was sie vermutlich oft nicht taten. Heute gehen Meldungen automatisiert auf elektronischem Weg an die Kassen.

Auch die Belastungen durch globale Krisen, die Verdichtung in der Arbeitswelt sowie die ständige Erreichbarkeit von Beschäftigten könne zu vermehrten Krankmeldungen beitragen.

Kranke Arbeitnehmer unter Generalverdacht

Solche rationalen Argumente sind Lindner egal. Zwar wolle er niemandem vorwerfen, die Regelung auszunutzen, betont er, um dann nachzusetzen: Es gebe leider „eine Korrelation zwischen dem jährlichen Krankenstand in Deutschland und der Einführung der Maßnahme, die als guter Bürokratieabbau gedacht war“. Kranke Arbeitnehmer geraten so unter den Generalverdacht, in Wirklichkeit nur faulenzen zu wollen. Man müsste den Minister belehren, dass „Korrelation“ nicht gleichzusetzen ist mit „Verursachung“ – das ist statistische Allgemeinbildung, Lindner weiß es offenbar nicht.

Erstaunlich ist, dass die Verhindererpartei FDP es wieder einmal schafft, eine irrationale, wissenschaftsferne Debatte so voranzutreiben – und dabei zudem noch zu riskieren, die gutverdienenden Ärztinnen und Ärzte zu vergraulen. Die nämlich plädieren geschlossen für eine Beibehaltung der telefonischen Krankmeldung. Und wie möchte die FDP agieren, wenn tatsächlich eine nächste Pandemie käme? Die Regelung wieder aus der Mottenkiste holen und ein paar Jahre darüber diskutieren, ob sie wieder eingeführt werden soll?

Nein, ich glaube nicht, dass Christian Lindner dumm oder geschichtsvergessen ist. Er ist einfach nur ein Opportunist, der jetzt den Arbeitgebern gefallen möchte – und demnächst bei einer anderen Gesetzesinitiative wieder der Ärzteschaft. Nur schade, dass wir überhaupt keine Zeit haben für solche Scheindebatten.