Thomas Gottschalk: Vor dem Erscheinen des Buchs „Ungefiltert“ ist eine Debatte um seine Thesen entbrannt. Hat er in manchen seiner Kritikpunkte vielleicht recht?

Ich kann mich noch genau daran erinnern, als für mich die 80er anfingen. Es war 1982, im Kino landete ein niedlicher Außerirdischer namens E.T., Helmut Kohl wurde durch eine Parlamentsrochade Bundeskanzler, im Radio liefen unerhörte Songs wie Falcos „Der Kommissar“ und „Skandal im Sperrbezirk“ von der Spider Murphy Gang. Obwohl ich erst neun war, fühlte sich das Leben zum ersten Mal nach etwas Neuem, Wilden an: nach Jugend. 

Das hatte auch mit einer neuen Show zu tun, die plötzlich im deutschen Fernsehen in Vorabendprogramm lief, und die sich in einem Punkt von allen anderen unterschied: sie störte den Konsens. Die Stimme des Moderators war mir bestens bekannt, Thomas Gottschalk hatte zu jener Zeit auf dem Radiosender B3 eine beliebte Nachmittags-Show moderiert, im zweiten Teil kam sein Kumpel Günther Jauch dazu, der über aktuelle Sportereignisse berichtete und mit ihm flachste. Nun konnte man diesen Gottschalk in „Na sowas!“ auch sehen, er trug eine muntere Lockenfrisur. hatte eine freche Schnauze, und das beste an ihm: er reizte die „Generation Musikantenstadl“ bis aufs Blut. 

Thomas Gottschalk: Sein Polarisieren ergab einmal Sinn

Auch das war neu, dass Fernsehen herausfordern konnte. Zuvor war alles auf Allgemeingültigkeit ausgerichtet, auf jene Lagerfeuer-Tauglichkeit gebürstet, von der heute nostalgisch geschwärmt wird. Thomas Gottschalk riss im deutschen Fernsehen die Fenster auf, herein strömten frischer Wind und die Popkultur der großen weiten Welt. Gleich in den ersten Sendungen traten der schwule Falsett-Sänger Klaus Nomi, die eleganten britischen Superstars von Roxy Music, der schillernde Modedesigner Wolfgang Joop und die genderfluid geschminkte US-Band Kajagoogoo auf. Was war das toll. 

Nomi

Über 40 Jahre später sitzt Thomas Gottschalk im TV-Studio des „Kölner Treff“ und ist zu einem jener alten Säcke geworden, die er früher verachtet und verspottet hatte. Das besondere an dem Gespräch ist, dass der 74-Jährige gar nicht zur öffentlichen Hinrichtung bestellt worden war. Ihm gegenüber saß mit Micky Beisenherz nicht nur einer der besten Moderatoren des Fernsehens, sondern auch jemand, der ebenso mit dem großen Gottschalk aufgewachsen ist, seine Lebensleistung recht sicher schätzt und ihn für seine Showkünste verehrt hat. Man spürt förmlich, wie er Gottschalk immer wieder eine Brücke zu bauen versucht, darum ringt, diese selbstbestimmte Demontage abzubiegen.

Das macht diesen TV-Moment so besonders und so besonders tragisch. Gottschalks Patzigkeit und Überheblichkeit ist kaum zu fassen, jeder einzelne Moment schmerzt beim Zuschauen. Man sieht es auch in den Gesichtern der Talkgäste Cheyenne Ochsenknecht, Christoph Maria Herbst und Natalia Wörner, in denen sich pure Fassungslosigkeit abzeichnet. „Ich würde mir wünschen, dass die Stimme von Männern laut wird, wenn es um Ungerechtigkeiten gegenüber Frauen geht“, sagt Wörner irgendwann zu Gottschalk, nachdem er jene Sätze von sich gibt, die nun seit Tagen durch die Presse irrlichtern. Aber auch diese Möglichkeit schlägt er aus.IV Beisenherz Gottschalk 16:19

Gibt es ein Recht, nicht nachdenken zu müssen?

„Heute ist es so, dass ich erst einmal nachdenke, bevor ich etwas sage. Für mich ist das schlimm“, sagt er und man fragt sich, ob es wirklich eine Zumutung sein soll, erst einmal abzuwägen, was man vor einem Millionenpublikum daherredet. Zumindest seinem parallel erschienen Interview im Spiegel hätte es gutgetan, wenn er ein bisschen nachgedacht hätte bevor er sagt, „Frauen im TV rein dienstlich angefasst“ zu haben. Der Punkt ist, dass er das recht sicher bewusst von sich gibt. Zumindest das Print-Interview ist gegengelesen und autorisiert. Zufällig ist daran nichts. Gottschalk will weiterhin „Zigeunerschnitzel“ sagen und „Mohrenkopf“ und wähnt sich als Stimme einer ominösen schweigenden Mehrheit. Wenig verwunderlich, dass die Online-Plattform „Nius“, das Zentralorgan all jener, die glauben, man dürfe heutzutage rein gar nichts mehr sagen, den polternden Fernsehstar verteidigt. 

In seinem Buch prognostiziert Gottschalk die Kritik

Am Mittwoch erscheint nun Gottschalks Buch „Ungefiltert“, in dem er den Verriss in den Medien prognostiziert. Das gehört vermutlich zum Konzept. Er werde als „alter weißer Mann in eine Ecke gestellt, in der ich nicht sein möchte, sondern in meiner Kritik als Querulant wahrgenommen, der ich nicht bin – zumindest nicht sein möchte“, heißt es da. Wirklich nicht? Denn er tut schließlich alles dafür, um genau dort anzukommen. Der Applaus, den er erhält, kommt  nicht zufällig von dort, wo er angeblich nicht hinwill.Thomas Gottschalks Aufsehen erregendes Wochenende 8.24

Eines der großen Missverständnisse war es, Gottschalk als einen progressiven Tabubrecher wahrzunehmen, der mit seiner Flapsigkeit und den oft und lustvoll vollführten Bauchfleck in diverse Fettnäpfchen irgendetwas gesellschaftspolitisches im Sinn hatte. Wenn er von seiner Zeit an der Uni erzählt, als er linke Studentenproteste besuchte, dann sind es diese Ausflüge ins aufrührerische Lager, die er seit langem als Irrweg betrachtet. Geprägt habe ihn die Zeit als Ministrant und bei der katholischen Studentenverbindung KDStV Tuiskonia München, bei der er kürzlich das 100. Couleursemester als Alter Herr feiern durfte. Skandalös ist das nicht. Anders, als er behauptet, ist es in Deutschland weiterhin möglich, konservativ und bieder zu sein.

Wäre der „woke“ Zeitgeist tatsächlich so bedrohlich, würde ein Gottschalk nicht so viele Seiten mit seinen Thesen in den führenden Zeitungen des Landes füllen können. Es gäbe keinen Sendeplatz für Dieter Nuhr und Lisa Eckart. Der beliebteste Fernsehmoderator des Landes wäre nicht Günther Jauch, der leidenschaftlich die Rekonstruktion royaler Bauten seiner Wahlheimat Potsdam betreibt. Und die ach so linken Reporter würden nicht Schlange stehen, um sich von Harald Schmidt Sätze abzuholen, die Wahlerfolge von AfD und BSW als Zeugnis einer funktionierenden Demokratie ausweisen.

Gottschalk hat eine Mission. Aber hat er auch recht?

Gottschalk hat eine Mission. Ist die aktuelle Aufregung um ihn möglicherweise ein Indiz dafür, dass er im Kern mit seiner Kritik recht hat? Da wäre seine Klage, dass die junge Generation, die sich vornehmlich in den sozialen Medien tummelt, schnell mit scharfen Waffen zugange sei und in Koalition mit uns etablieren Medienschaffenden aufgrund von Indizien den Stab über einen bricht. Dem lässt sich schwer widersprechen. Bloß: Ist es nicht genau das, was Jung-Gottschalk einmal getan und groß gemacht hat? 

Der Knackpunkt in der aktuellen Debatte ist sein Benehmen gegenüber Frauen. Ganz besonders unangenehm wirkt es, wie er sich der 24-jährigen Cheyenne Savannah Ochsenknecht im Kölner Treff nähert, ihren Arm mit spitzen Fingern zur Veranschaulichung hochhebt. Wenn Gottschalk sagt, dass er nicht mehr mit Frauen in einen Aufzug steigt, weil er befürchten müsse, dass er danach eines sexuellen Übergriff beschuldigt werden könnte, lässt auf ein moralisch verrutschtes Weltbild schließen. Waren die Zeiten wirklich so viel besser, als man die Bedienung in Cafés „Fräulein“ rief und ihr danach ungestraft in den Popo kneifen konnte? Das war auch schon zu Zeiten, als „Na sowas!“ startete nicht besonders fein, und es gab auch damals Männer, die nicht grapschten und Frauen achteten. Nicht weil sie „woke“ waren, sondern aus Anstand.

Das Internet hat seine Welt ruiniert

Thomas Gottschalk hat die Generation der Influencer und Video-Creators als Hauptfeinde seines Daseins erklärt. In der Kulturkritik dieses Genres kann man ihm in manchem Kritikpunkt zustimmen. RTL-Gründer Helmut Thoma hat mir einmal in einem privaten Rahmen schlagfertig vor den Latz gegeben, dass ich ihm als Social Media-affiner Printjournalist, der auf YouTube und Instagram unterwegs ist, vorkomme, „wie die Azteken, die glücklich den Spaniern hinterhewinkten, während diese mit ihrem Gold davonsegeln.“ 

Gottschalk mosert nicht nur über Internetstars, sondern auch über aktuelle Popstars, die der Größe der Superstars seiner Ära, nicht entsprechen würden. Tja Tommy, die Zeiten ändern sich eben. Und doch liegt er darin falsch. Wer gesehen hat welch immense Identifikation Taylor Swift, deren Popstarqualitäten Gottschalk infrage stellt, auslöst, kann dem nicht zustimmen. Als Swifts Konzerte aufgrund von Terrorverdacht abgesagt werden mussten und Tausende Fans die Stadt zu einem einzigen Swifties-Chorgesangs-Happening verwandelten, muss doch einsehen, dass das mit einem Gitarrensolo von Jimi Hendrix durchaus mithalten kann.

Gedankenfreiheit gilt auch für Gegner

„Die Gedanken sind frei“ schreibt Gottschalk in seinem Buch über ein Kapitel. Es ist der Titel eines Volksliedes, das Zeiten politischer Unterdrückung oder Diktatur Ausdruck für die Sehnsucht nach Meinungsfreiheit gewesen war. Als Robert Scholl, der Vater der Geschwister Scholl, wegen hitlerkritischer Äußerungen im Gestapo-Haft saß, soll dessen Tochter Sophie die Melodie an der Gefängnismauer für ihn mit der Flöte gespielt haben, etwa ein Jahr bevor sie selbst vom NS-Terror-Regime ermordet werden sollte. 1989 intonierten Mitglieder der Dresdner Staatskapelle das Lied, und es wurde auf dem Theaterplatz Dresdens von tausenden Demonstranten der friedlichen Revolution mitgesungen. In deren Tradition will er sich also ernsthaft stellen, bloß weil ihn junge Menschen dafür kritisieren, weil er sich weigert, den Namen einem migrantischen Fußballnationalspielerin richtig auszusprechen?

Ja, Thomas Gottschalk hat recht: Die Zeiten sind komplizierter geworden, herausfordernder, möglicherweise auch ungerechter. Auch er muss lernen, damit umzugehen, dass er infrage gestellt, kritisiert wird, dass es Gegenwind gibt. Vielleicht schaffen wir es, diese schrille und deutlich zu laute Debatte positiv zu nützen. Zur Vielfalt, die diesem Land als Leitmotiv gilt, gehören nun einmal auch gesellschaftliche Gruppen und Haltungen, die man nicht mag. Thomas Gottschalk hat seine eigene These widerlegt, an seinem Beispiel sieht man, dass auch er seine Meinung sagen darf, und sie quer durch die Republik besprochen wird. Doch es gibt kein Grundrecht darauf, dass einem nicht widersprochen wird. Der junge Gottschalk hätte gerade dies oberaffengeil gefunden.