Politiker, Experten, Eltern, alle sind sich einig: Kinderrechte müssen ins Grundgesetz. Das ist auch ein Anliegen des Kindertages. Passiert ist bisher nichts. Worauf warten wir?

Heute ist Weltkindertag. Der wird jedes Jahr am 20. September in 145 Ländern weltweit begangen. Gefeiert wäre zu viel gesagt, denn in Deutschland finden keine öffentlichen Feste mit oder für Kinder statt. Lediglich in Thüringen ist heute ein Feiertag, Kinder (und Erwachsene) haben sogar frei. Im Rest der Republik gibt es nicht mal freien Eintritt für alle unter 18-Jährigen ins Schwimmbad. Vermutlich wissen daher auch nur die wenigsten Leserinnen und Leser, dass eben heute dieser Tag im Kalender steht. 

Scheint also nicht so wichtig zu sein, der Weltkindertag, könnte man jetzt einwenden. Wozu dann noch Worte darüber verlieren? Bitte lesen Sie trotzdem weiter! Denn dieser Tag ist wichtig. Er bietet die Chance, auf die Bedürfnisse der Jüngsten in der Gesellschaft aufmerksam zu machen und wurde dazu vor mehr als 70 Jahren von den Vereinten Nationen angeregt. 

Mit Kinderrechten in die Zukunft – schön wär’s

In diesem Jahr steht der Kindertag unter dem Motto: „Mit Kinderrechten in die Zukunft“. Damit ist es in Deutschland nicht besonders weit her, denn Kinder haben hierzulande keine garantierten Grundrechte. 

Kebekus Kinderrechte statt Tatort 21.25

Im Grundgesetz werden Kinder lediglich als Objekte, nicht als Subjekte behandelt. In Artikel 6 heißt es: „Ehe und Familie stehen unter dem besonderen Schutz der staatlichen Ordnung. Pflege und Erziehung der Kinder sind das natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht. Über ihre Betätigung wacht die staatliche Gemeinschaft.“ Die Passage wurde bewusst so formuliert, damit der Staat nicht in die Eltern-Kind-Beziehung eingreifen kann. Nach der NS-Zeit sollte er nie wieder die Möglichkeit bekommen, Kinder zu indoktrinieren.

Doch der Status eines Kindes, das Verhältnis zwischen Eltern und ihren Söhnen und Töchtern, auch der Erziehungsstil, haben sich in den letzten Jahrzehnten erheblich gewandelt. Es wäre daher an der Zeit, die Leitlinien für unsere Gesellschaft an dieser Stelle zu überarbeiten.

Kinder werden zu selten gefragt

Die Corona-Pandemie zeigte überdeutlich, dass die Interessen von Kindern nicht im Fokus der Politik stehen. Damit sie als „Superspreader“ nicht Oma und Opa mit dem Virus infizieren konnten, mussten sie zu Hause bleiben. Stünden die Rechte von Kindern im Grundgesetz, hätte das dazu führen müssen, dass Behörden und Gerichte bei ihren Entscheidungen die Perspektive und das Wohl von Kindern stärker in den Blick genommen hätten. So aber wurden in Deutschland die Biergärten eher wieder geöffnet als die Schulen.

Mehr Wertschätzung erfuhren die Kinder in Norwegen: Dort wandte sich Ministerpräsidentin Erna Solberg in einer Pressekonferenz im März 2020 explizit an die Jungen und Mädchen ihres Landes und erklärte ihnen, warum die Schulen geschlossen wurden. Sie bedankte sich bei den Kindern für ihre Mithilfe.

Die Einführung von Kinderrechten ist eine von zehn Maßnahmen im Kampf gegen Kinderarmut, wie stern-Redakteurin Catrin Boldebuck in ihrem Buch: „Jedes Fünfte Kind. Warum Kinderarmut unseren Wohlstand und unsere Freiheit gefährden“ beschreibt. Es erscheint am 2. Oktober 2024 im Goldmann Verlag, 256 Seiten, 18 Euro.

Würden Kinderrechte als Staatsziel im Grundgesetz verankert werden, würde das an prominenter Stelle die besondere Verantwortung des Staates für Kinder und Jugendliche betonen. Das hätte mehr als nur symbolische Bedeutung. Denn bei jeder politischen Entscheidung müsste dann in Zukunft geprüft werden: Wie wirkt sich das auf Kinder und Jugendliche aus? Dadurch könnte ein grundsätzliches Umdenken einsetzen – sowohl in der Politik als auch in der Rechtsprechung und der Gesellschaft. Eine Reform des Bildungssystems, die bessere Ausstattung der Schulen oder die Bekämpfung von Kinderarmut wären dann nicht mehr nur wohlmeinende Aufrufe in Sonntagsreden, die montags schon wieder vergessen sind. 

Kinder und Jugendliche sollten bei Entscheidungen, die sie betreffen, mitbestimmen: beim Bau von Schulen, bei der Planung von Wohnvierteln. Sie könnten als Experten einbezogen werden. Nicht nur in der Schule und auf kommunaler Ebene, sondern auch in Ausschüssen des Bundestages. Dadurch würden hoffentlich auch die Bedürfnisse von armen Kindern und Jugendlichen stärker in den Fokus geraten. Ihre Situation könnte nicht länger ignoriert werden. Verfassungsmäßig garantierte Beteiligungsrechte haben Kinder bereits in Norwegen, Österreich, Spanien, Belgien und Irland.

Jedes fünfte Kind in Deutschland wächst in Armut auf

Nach wie vor wächst jedes fünfte Kind in Deutschland in Armut auf, rund drei Millionen Mädchen und Jungen. Das sind doppelt so viele Menschen, wie München Einwohner hat. Diese Erkenntnis ist leider überhaupt nicht neu. Doch viel zu lange schon sehen wir Erwachsenen über dieses Problem hinweg und bagatellisieren es („Sowas gibt es doch hier bei uns gar nicht!“ oder „Sollen doch die Eltern arbeiten gehen!“). Arme Kinder werden systematisch ausgegrenzt und benachteiligt. Das ist nicht nur ein Armutszeugnis für eine so reiche Gesellschaft wie unsere, sondern ein Verstoß gegen das Grundgesetz, in dem steht: „Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit.“

Organisationen wie das Deutsche Kinderhilfswerk fordern seit Langem Kinderrechte im Grundgesetz. Unter der Regierung von Angela Merkel ist das Vorhaben gescheitert. Die Absicht steht auch im Ampel-Koalitionsvertrag mit dem Titel „Mehr Fortschritt wagen“. Die Einführung der Kindergrundsicherung ist schon so gut wie gescheitert, vielleicht könnte die Regierung wenigstens dieses Vorhaben noch umsetzen. 

15 Prozent der britischen Haushalte haben letzten Monat gehungert, 22.15

Die Einführung von Kinderrechten wäre mehr als ein symbolischer Akt, sie ist überfällig nach 75 Jahren Grundgesetz. Grundrechte für Mädchen und Jungen darin aufzunehmen, wäre eine Maßnahme, die dabei helfen könnte, dass sich etwas ändert. Das Signal wäre: Wir nehmen euch ernst. Und deshalb ist dieser Weltkindertag heute so wichtig und beileibe kein Gedöns. Danke, dass Sie diesen Kommentar zu Ende gelesen haben!