Aus dicken Kindern werden häufig dicke Erwachsene. Könnten Abnehmspritzen diesen Ablauf durchbrechen helfen? Zu einem Wirkstoff gibt es nun eine Studie – unklar bleiben allerdings die Langzeitfolgen.
Starkes Übergewicht ist auch bei vielen Kindern schon ein großes Problem – umso mehr, da aus fettleibigen Kindern sehr oft adipöse Erwachsene werden. Könnten Abnehmspritzen auch für Menschen unter 18 Jahren eine Lösung sein? Eine Studie weist für den Wirkstoff Liraglutid darauf hin, dass er bei Kindern effektiv wirkt und sicher ist. Untersucht wurde der Effekt bei Sechs- bis Zwölfjährigen.
Bisher keine wirklich erfolgreiche Methode
„Bisher gibt es für diese Altersgruppe keinerlei Medikation, um Adipositas zu behandeln“, sagt Daniel Weghuber vom Uniklinikum Salzburg, der selbst nicht an der Studie beteiligt war. Bei den meisten Jugendlichen mit Adipositas habe diese auch schon zum Zeitpunkt der Einschulung bestanden. Eine so früh wie möglich einsetzende Intervention bei Kindern sei also wichtig.
Bisher stehe als Methode ausschließlich eine Lebensstilveränderung im Rahmen einer Familienschulung zur Verfügung, erklärt Weghuber, Vorstand der Universitätsklinik für Kinder– und Jugendheilkunde. „Das ist leicht gesagt, aber sehr schwierig umzusetzen.“ Insofern könne die Verwendung von Liraglutid gerade bei Kindern mit einer extremen Form von Adipositas ein wesentlicher ergänzender Schritt sein.
Langzeitfolgen auch hier unklar
Wie bei Jugendlichen und Erwachsenen stelle sich aber die Frage, inwiefern die Substanz für eine langfristige Therapie geeignet und sicher sei. „Diese Frage gilt nicht nur für Kinder zwischen sechs und zwölf Jahren, sondern für alle Menschen mit dieser Therapie“, so Weghuber. Bekannt sei bisher nur, dass es bei einem Absetzen des Mittels beim überwiegenden Teil der Betroffenen wieder zu einer Gewichtszunahme komme.
Liraglutid muss also nach derzeitigem Kenntnisstand langfristig über Jahrzehnte genommen werden. Was für Langzeitfolgen das haben könnte, ist bisher unklar, weil dieses und ähnliche Mittel noch nicht lange genug im Einsatz sind.
Auch Nerys Astbury von der University of Oxford – ebenfalls nicht an der Studie beteiligt – gibt zu bedenken: „Obwohl es keine Hinweise darauf gab, dass sich Liraglutid nachteilig auf Veränderungen der Körpergröße, des Knochenalters oder des Pubertätsstatus auswirkte, sind weitere längerfristige Nachuntersuchungen der Teilnehmer und ihrer Wachstumsmuster erforderlich.“
Martin Wabitsch vom Universitätsklinikum Ulm erklärt, dass eine Hoffnung darin bestehe, dass eine frühzeitige Anwendung des Medikaments zu einer so deutlichen Wirkung führt, dass die Dosis später reduziert oder das Mittel sogar ganz abgesetzt werden kann.
56 Kinder wurden behandelt
Die neue Studie, die im Fachjournal „New England Journal of Medicine“ vorgestellt wurde, lief über einen Zeitraum von 56 Wochen. Darin einbezogen wurden 82 stark adipöse Kinder in den USA. 56 von ihnen erhielten eine tägliche Injektion mit Liraglutid (Markenname „Saxenda“), 26 Placebo-Spritzen. Alle Teilnehmenden seien zudem individuell zu gesunder Ernährung und körperlicher Aktivität beraten worden, schreiben die Forschenden um Claudia Fox von der University of Minnesota in Minneapolis.
Der durchschnittliche Body-Mass-Index (BMI) verringerte sich bei den Kindern der Liraglutid-Gruppe um 5,8 Prozent, in der Testgruppe nahm er um 1,6 Prozent zu. Generell legten alle Kinder im Zuge ihres Wachstums an Gewicht zu, die Kinder in der Liraglutid-Gruppe aber nur 1,6 Prozent, die in der Placebogruppe 10 Prozent des Ausgangsgewichts. Die beobachtete Gewichtsveränderung der behandelten Kinder entspreche dem Zehnfachen der bei einer Lebensstiländerung zu erwartenden, ordnet Weghuber ein.
Nebenwirkungen wie bei älteren Probanden
Die beobachteten Nebenwirkungen entsprachen den zuvor in Analysen mit Jugendlichen und Erwachsenen beobachteten, wie es in der Studie weiter heißt. Häufig waren das Übelkeit, Erbrechen und Durchfall. Knapp 11 Prozent der Kinder, die Liraglutid erhielten, brachen die Einnahme aufgrund der Nebenwirkungen ab.
Wabitsch ist der Ansicht, dass das Medikament künftig vor allem für Kinder mit extremer Adipositas in Frage kommt – „und sicher nicht für alle Kinder mit Adipositas“. Diese kleine Gruppe von Patientinnen und Patienten sei durch eine starke biologische Anlage für Adipositas charakterisiert. Kennzeichnend sei ein Defekt der zentralen Regulation von Hunger und Sättigung. „Genau hier setzt Liraglutid an.“
Daten zu ähnlichen Wirkstoffen stehen noch aus
Liraglutid ist ein sogenannter Glucagon-like-Peptid-1-(GLP-1)-Rezeptoragonist. Es bindet an den GLP-1-Rezeptor. Dadurch wird unter anderem der Appetit gehemmt. Für Jugendliche und Erwachsene ist der Wirkstoff zur Behandlung von Diabetes und Übergewicht auch in Europa zugelassen.
Nachfolgemittel aus der gleichen Substanzgruppe wie Semaglutid (Markenname „Wegovy“) und Tirzepatid („Mounjaro“) haben Studien zufolge eine bessere Wirkung, zudem müssen sie nicht täglich gespritzt werden. Studien zur Verträglichkeit und Wirksamkeit dieser beiden Wirkstoffe bei Kindern gibt es bisher noch nicht.
Semaglutid und Liraglutid seien in der EU und in den USA ab zwölf Jahren zugelassen, erklärt Wabitsch, selbst nicht an der vorgestellten Analyse beteiligt. Die jetzige Veröffentlichung werde dazu führen, dass auch die Zulassung für Liraglutid ab sechs Jahren kommt, ist der Mediziner überzeugt. Für Semaglutid laufe in seinem Zentrum in Ulm derzeit eine ähnliche Studie bei Kindern, deren Ergebnisse für kommendes Jahr zu erwarten seien.