Die Pilgerstadt in Indien zieht Touristen aus aller Welt an – und viele Hindus, die Erlösung suchen. Einige von ihnen wollen in einer speziellen Villa sterben.

Als der Inderin Sharda Devi klar wird, dass sie nur noch wenige Tage zu leben hat, reagiert sie gereizt. Selbst als ihr Sohn Mukesh Tiwari eine Zeremonie mit einer heiligen Kuh in ihrem Dorf in dem armen Bundesstaat Bihar vorbereitet, die ihr gutes Karma für das nächste Leben bescheren soll, schreit sie ihn an. Denn sie stellt sich etwas ganz anderes für ihr eigenes Ende vor.

Sie will in der wichtigsten hinduistischen Pilgerstadt Varanasi in Nordindien sterben und anschließend neben dem heiligen Fluss Ganges verbrannt werden – so wie es viele andere Hindus seit Tausenden von Jahren tun. Nur so erlangt man dem Glauben nach die endgültige Erlösung. Diese nennen Hindus Moksha – das Ende des ewigen Kreislaufs der Wiedergeburten in Millionen von Lebensformen als Mensch und Tier mit Freud, aber auch Leid.

Ihr Sohn Mukesh sagt, er wolle die wichtigste Person in seinem Leben nicht gehen lassen. Trotzdem setzt er seine bis auf die Knochen abgemagerte Mutter wie auch seine Frau und seine Tochter in eine motorisierte Rikscha und macht sich auf die mehr als fünf Stunden dauernde Reise. Dann schaffen sie es zum Ganges, der der Sage nach seinen Ursprung im Himmel hat, und in dem Sharda Devi ein Bad nehmen will – so wie es zu jeder Tageszeit Hunderte Frauen in bunten Saris und Männer oft in schwarzen Unterhosen tun. Sie glauben, dass das Bad in dem bräunlich gefärbten Fluss sie von Sünden befreit und reinigt – auch wenn fortwährend viele Abflüsse von Fabriken hineinlaufen und Menschen dort ihre Wäsche waschen.

Nur wem es schlecht geht, darf bleiben

Schließlich reist die Familie weiter durch die Innenstadt mit ihren labyrinthartigen Gassen, in denen es nach frisch frittierten Samosas, Rauch, Müll und dem Mist der vielen frei auf der Straße lebenden Kühe riecht. Und kurz nach Mitternacht erreichen sie endlich ihr Ziel: eine gold- und -türkisfarbene Villa in einem wilden Garten, das Mukti Bhawan – das Haus der Erlösung.

Wer hier ein Zimmer will, muss dem Tod ganz nah sein – und darf in der Regel höchstens 15 Tage bleiben, erzählt der hinduistische Priester Kalikant Dubey, der seit elf Jahren in dem Hospiz arbeitet. „Nur wenn ihr Zustand weiter schlecht bleibt, gebe ich ihnen weitere 15 Tage“, sagt der Mann im orange-weißen Gewand. „Sonst müssen sie gehen.“ Habe man als Sterbender eingecheckt, dürfe man das Hospiz nicht mehr zeitweise verlassen. Auch Karten- oder Brettspiele, Fleisch, Fisch, Eier, Zwiebeln und Knoblauch sowie das Rauchen seien hier tabu.

Gast Nummer 14.994

Dubey notiert den Namen aller ein- und austretenden Gäste. Sharda Devi ist Nummer 14.994. Dubey weist ihr eines der kargen Zimmer zu. Dort liegt sie nun auf einer dünnen Matratze aus Kunstleder auf einer Pritsche. Über ihr an der himmelblauen und leicht verfärbten Wand hängen zwei Bilder von Göttern. Und durch die zwei kleinen Fenster fällt kaum Licht. Es ist Hochsommer und zwei Ventilatoren an der Decke vermögen kaum, die unerträgliche Hitze zu mildern. Der Schweiß tropft einem ständig herunter. Aber Priester Dubey sagt, dass Sterbende nicht mehr Luxus bräuchten.

Devi scheint nun ruhig zu sein. Mit letzter Kraft berührt sie sanft den Kopf ihrer Enkelin, ihr Sohn gibt ihr einige Tropfen Ganges-Wasser zu trinken. Und kaum hörbar sagt sie: „Ich habe ein Leben im Dienst Gottes geführt. Jetzt hat er mir meinen letzten Wunsch erfüllt.“ Tiwari sagt, seine Mutter habe den Armen Essen gegeben und gefastet. Sie habe viel gebetet und nie jemandem etwas zuleide getan.

Sharda Devi stirbt eine Woche nach ihrer Ankunft im Mukti Bhawan. Priester Dubey sagt: „Sie hatte einen guten Tod. Sie konnte bis zuletzt sprechen.“

Trommeln, Gesang und Kerzen

Zu jeder Tages- und Nachtzeit hört man im Mukti Bhawan fromme Gesänge aus einem Lautsprecher im Innenhof. Manchmal trommeln und singen auch Priester Dubey und seine drei Kollegen. Sie schwenken Kerzen vor einem Altar, baden kleine Figuren hinduistischer Götter in Ganges-Wasser und ziehen ihnen frische Kleider an.

In die Villa müssen Sterbende mit ihren Angehörigen kommen, die sie pflegen und Essen kochen oder dieses von auswärts besorgen. Aber der Aufenthalt ist kostenlos. Das war der Wunsch von Jathia Devi, die einst hier lebte und deren reiche Familie das Haus besitzt. Seit ihrem Tod steht die Villa Hindus offen, die auf Moksha hoffen. Sie kämen aus allen Ecken des Subkontinents – seit dem Jahr 1958, sagt Dubey. Nur Menschen aus niedrigen Kasten kämen nicht. Denn diese glauben seiner Meinung nach nicht an das Konzept von Moksha.

Das Kastensystem – wenn auch schon seit Jahrzehnten offiziell abgeschafft – dominiert das Leben in Indien. Wer in eine hohe Kaste geboren wird, hat es leichter im Leben. Mit einer tiefen Kaste hat man oft nur die Möglichkeit, den harten Job seiner Vorfahren auszuüben. So ist es auch bei den sogenannten Doms, die für die Feuer zuständig sind, in dem die Leichen zu Asche werden. Der wichtigste Gott Varanasis – Lord Shiva – soll die Doms zu diesem Schicksal verflucht haben, nachdem einer ihrer Vorfahren versucht habe, Shivas Frau Parvati einen Ohrring zu stehlen.

„Mein Körper wird ganz heiß und meine Augen brennen“, sagt der 37-jährige Dom Bhalu Chaudhary, der Holzscheite auf die Feuer an der Uferpromenade des Ganges legt, seit er die Grundschule abgebrochen hat. „Ich hatte einst viele Träume – aber sie blieben Träume.“ Er hofft, dass sein Sohn mal einen besseren Job hat.

Leichen verbrennen im Akkord

Totenrituale sind in dem patriarchal geprägten Land Männersache. Üblicherweise setzen die ältesten Söhne, Neffen oder anderen nahen Verwandten die Flamme beim Kopf der Leiche auf dem Scheiterhaufen an. Auch Tiwari tut dies bei seiner geliebten Mutter – bereits wenige Stunden nach ihrem Tod, so wie es die Tradition will.

Angehörige schauen zu. Aber nicht nur sie: Einäscherungen sind öffentlich. Auch andere Menschen genießen die Stimmung beim Fluss, während die Feuer brennen. Gleichzeitig verkauft ein Mann Limonade, die er in einem orangen Eimer mit Eiswürfeln mit sich trägt. Daneben gibt es Astrologen, Priester und mit Asche eingeriebene Sadhus – asketisch lebende heilige Männer, die ihre Dienste gegen Geld anbieten.

Das Verbrennen passiert am Ganges im Akkord. Einige Leichen liegen in weiße Tücher gehüllt auf Bahren auf den Boden. Das Weiß symbolisiert im Hinduismus Reinheit, Trauer und die Idee, dass sich die Seelen der Toten aufmachen. Daneben suchen Hunde in der Asche neben den Feuern nach Knochen. Ziegen meckern. Dom Chaudhary sagt, es dauere zweieinhalb bis drei Stunden, bis eine Leiche zu Asche wird. Dann übergeben die Angehörigen diese dem Ganges.

Den Tod akzeptieren

Einige hoffen, dass ihre Vorfahren Moksha erreichen können, wenn sie zwar anderswo verstorben sind, dann aber im Ganges verstreut werden. Sharmila etwa, die mit ihrer Familie und der Asche ihres Vaters und Bruders aus dem fernen westindischen Bundesstaat Maharashtra gekommen ist. Der Vater sei vor 18 Jahren gestorben, der Bruder vor einem Monat. Sie schütten auch heiliges Wasser über ein mit frischen Blumenkränzen geschmücktes Symbol des Gottes Lord Shiva und beten. „Wir haben bereits zu Hause getrauert“, sagt Sharmila. „Jetzt lachen wir mit den Kindern.“

In Varanasi sind der Tod und das Leben so nah und für alle sichtbar wie an wenigen anderen Orten. Man sieht, wie der Tod ein unausweichlicher Teil des Lebens ist und wie man mit seiner Trauer nicht allein ist. Vielleicht hilft dies auch, das Unabwendbare zu akzeptieren. Und möglicherweise ist der Tod auch nicht das Ende.