Migrationsgipfel geplatzt, die Grünen sind schuld? Diesmal wohl nicht. Vor allem dem CDU-Vorsitzenden Friedrich Merz ist zu verdanken, dass die Spitzengespräche zur Migration gescheitert sind.
Mit dem Scheitern des Gipfels beginnt die Zeit der Schuldzuweisung. Das verlangt die politische Dramaturgie. Also, an wem hat es gelegen? Waren es, mal wieder die Grünen, die ewigen Blockierer? Die rechtgläubigen Liberalen oder doch die Bundesinnenministerin selbst?
Sicher ist, es lag von Anfang an kein Segen auf diesem angeblichen Migrationsgipfel. Die Ampel hätte ihn spätestens mit dem Merz’schen Ultimatum absagen müssen. Die Union will nicht kommen, wenn nicht umfassende Zurückweisungen jedweder Art verabredet werden? Gut, dann kommt sie eben nicht. Eine souveräne Bundesregierung hätte sich so niemals erpressen lassen dürfen.
Aber ist die Koalition deshalb schuld am Scheitern der Gespräche? Wohl kaum. Oder zumindest nicht alleine.
Das Vorrecht des Oppositionschefs beim Migrationsgipfel
Es ist das Vorrecht eines Oppositionschefs, Vorschläge zu unterbreiten, die forscher, kühner, mitunter auch ein wenig zu ambitioniert oder gar illusorisch erscheinen. Genau das hat der CDU-Chef getan. Er darf das. Von einem Mann aber, der in jeder Sekunde seines Daseins den Eindruck zu erwecken sucht, er wäre der bessere Kanzler als dieser Olaf Scholz im Kanzleramt, dürfen die Wählerinnen und Wähler zu Recht ein wenig mehr erwarten. Vorschläge etwa, die sich umsetzen ließen, jetzt, sofort, unverzüglich.
Stattdessen muss Merz sich nun selbst die Frage gefallen lassen, wie groß sein eigener Einigungswillen in Wahrheit gewesen ist. Keine Einigung bei Migrationsgesprächen
Er habe, sagte Merz am Abend mit Krokodilstränen-erstickter Stimme, wirklich alles versucht, um das heikle Thema Migration aus dem Wahlkampf herauszuhalten. Was natürlich nicht ganz der Wahrheit entspricht. Insgeheim hatte er mindestens gehofft, das Thema würde die Ampel final auseinandertreiben.
Das tiefsitzende Trauma des CDU-Chefs
Auch darum hat Merz dabei geholfen, das Thema Migration politisch überhaupt so hochzukochen. Im Nachgang des Attentats von Solingen hat er die Chance gewittert, die migrationspolitische Wende herbeizuführen, von der er seit Merkels Grenz-Nichtschließung im September 2015 träumt. Die Flüchtlingspolitik der Ex-Kanzlerin ist sein tiefsitzendes Trauma – und jetzt sah er die Chance zur Therapie.
Jetzt meint Solingen. Der Messerangriff auf dem Stadtfest war ein schrecklicher Terrorangriff, einer, der sich womöglich sogar hätte verhindern lassen, wenn die Behörden den Mann rechtzeitig ausgewiesen hätten, bevor er zum Täter werden konnte. Ja, all das ist richtig.
Merz spürte den verbreiteten Wunsch vieler Menschen, dass nun mehr passieren müsse, als Verwaltungsvorgänge zu beschleunigen. Darum setzte er die Ampel mit seinem Forderungskatalog unter Zugzwang. Darum saß er nach seinem Gespräch mit dem Kanzler mehr als eine Stunde vor der Hauptstadtpresse und diktierte, was nun zu tun sei. Er wolle nichts mehr von Problemen hören, er wolle Lösungen.
Wir ertrinken im Chaos? Wohl kaum
Zu dieser Lösung im Merz’schen Sinne gehörte von Anfang an, die Notlage zu erklären. Im Bund und in allen Bundesländern, auch den CDU-regierten, wäre wegen der Migrationsströme die staatliche Ordnung in Gefahr. Das ist – trotz aller Problemen vieler Kommunen und bei aller Liebe zur Zuspitzung – natürlich komplett abwegig. Das wäre aber die Voraussetzung dafür gewesen, die geltenden Verfahrensregeln an den EU-Binnengrenzen aussetzen und Flüchtlinge jeder Art zurückweisen zu können: Wir ertrinken im Chaos. Wir schaffen es nicht einmal mehr Registrierung oder Rückführung zu organisieren. Interview Wüst Heft 5.51
Das geben aber weder die aktuellen Zahlen her noch die Lage in weiten Teilen des Landes. Dennoch Flüchtlinge umfassend zurückzuweisen – das kann ein Oppositionspolitiker natürlich fordern. Eine Regierung kann es aber nicht umsetzen. Eine Regierung dürfte nicht wissentlich und absichtsvoll geltendes EU-Recht missachten. Die Regierung des größten EU-Mitgliedslandes gleich gar nicht.
Es ist das stete Ziel von Populisten, vor allem jener von rechts, zu beweisen, dass das „System“ nicht in der Lage ist, die wahren Probleme zu lösen. Merz hat also völlig recht, wenn er nun feststellt, vom Scheitern profitieren vor allem sie. Er selbst hatte heute seinen Anteil daran.