Vier Tore und viele Torraumszenen – im Klassiker zwischen Holland und Deutschland geht es mal wieder zur Sache. Einige Dinge dürften Bundestrainer Julian Nagelsmann aber nicht gefallen haben.

Julian Nagelsmann lief verärgert auf den Rasen der Johan-Cruyff-Arena. Der Schlusspfiff des italienischen Schiedsrichters Davide Massa während eines vielversprechenden deutschen Angriffs gefiel dem Bundestrainer überhaupt nicht, mit dem Remis im prestigeträchtigen Kräftemessen gegen Oranje war er aber sehr wohl zufrieden. Denn nach dem schnellsten Gegentor seit 50 Jahren hat sich die Nationalmannschaft trotz großer Defensivprobleme mit einem Punkt in den Niederlanden belohnt. Mit viel Abwehr-Risiko und großer Leidenschaft kamen die diesmal auch als Fußball-Arbeiter geforderten Spaßkicker um Florian Wirtz und Jamal Musiala zu einem 2:2 (2:1) in Amsterdam. 

„Es war sehr unterhaltsam. Beide Teams waren defensiv ein bisschen zu anfällig, dafür war es ein spannendes und offenes Spiel. Wir sind verdientermaßen zurückgekommen. Zwei Tore muss du auch erstmal nachlegen. Zum Ende hin waren wir dem Tor näher“, sagte Nagelsmann beim TV-Sender RTL und ärgerte sich ein wenig über den Schiedsrichter: „Wir haben eine Topchance weggepfiffen bekommen in der letzten Sekunde. Er hat auf beiden Seiten nicht gut gepfiffen. Ich finde auch, dass es ein klarer Elfmeter an Jamal war.“

Deniz Undav (38. Minute) mit seinem DFB-Premierentor als Ersatzmann für den verletzten Niclas Füllkrug und Joshua Kimmich (45.+3) drehten nach dem Blitztor von Tijjani Reijnders (2.) bis zur Halbzeit das Resultat, Denzel Dumfries (50.) glich mit einem weiteren schnellen Oranje-Treffer nach der Pause aber vor 50.109 Zuschauern noch aus.

„Die hatten ihre Chancen, wir auch. Wir müssen noch besser werden. Heute war nicht unser Tag wie gegen Ungarn. Aus solchen Spielen wie gegen Holland werden wir lernen. Es gab ein paar Ballverluste wie vor dem Gegentor, da müssen wir cleverer sein“, meinte Musiala und ergänze: „Es sind auch viele positive Sachen, die wir rausnehmen können. Es ist auch normal, wenn vier Legenden raus sind aus der Mannschaft. Es ist ein Prozess. Die Stimmung um die Mannschaft ist richtig gut. Wir spielen guten Fußball. Es macht Spaß.“

Drei Tage nach der 5:0-Gala gegen Ungarn erwiesen sich die Holländer im Spitzenspiel der Gruppe 3 der Topliga der Nations League als der deutlich anspruchsvollere Gegner. Nach dem Remis geht die DFB-Elf aber als Tabellenführer in die Oktober-Spiele, wenn es nach der Partie in Bosnien-Herzegowina (11.10.) zu einem schnellen Wiedersehen in München mit Oranje (14.10.) kommt. Dann kann sogar schon der Weg Richtung Viertelfinale geebnet werden. 

Nagelsmann kann bei vier Zählern mit dem Neustart nach der Heim-EM zufrieden sein. Gegen das Team von Bondscoach Ronald Koeman konnte wenig gezaubert werden, aber die Widerstandskraft stimmte.

Früher Schock für DFB-Team

„Wir wollen versuchen, einen Moment zu zaubern, der in Erinnerung bleibt“, hatte Nagelsmann angekündigt. Doch zunächst gab es nach der Gala gegen Ungarn ein böses Erwachen unter dem wegen des stürmischen Wetters geschlossenen Dach der Arena. Schon nach 99 Sekunden hatte Oranje die deutsche Elf überrumpelt. Nach einem langen Ball von Torhüter Bart Verbruggen legte Brian Brobbey den Ball per Brust auf Ex-Bayern-Profi Ryan Gravenberch, dessen Steilpass auf Reijnders die deutsche Hintermannschaft komplett entblößte.

So kassierte die deutsche Mannschaft das schnellste Gegentor seit 50 Jahren. Im WM-Finale 1974 – ebenfalls gegen die Niederlande – hatte letztmals Johan Neeskens noch früher getroffen. Damals dauerte es nur 86 Sekunden.

Niederländisches Umschaltspiel bereitet große Probleme

Dabei hatte Nagelsmann noch vor dem niederländischen Umschaltspiel gewarnt – offenbar vergeblich. Denn es kam zu weiteren höchst gefährlichen Kontern der Holländer, die riesige Lücken im deutschen Defensivverbund offenbarten. Bezeichnenderweise hatten sich die beiden Innenverteidiger Nico Schlotterbeck und Jonathan Tah nach nicht einmal 25 Minuten eine Gelbe Karte abgeholt. Und im Mittelfeld hatten Robert Andrich und Pascal Groß große Probleme, für Ordnung zu sorgen.

Angesichts des riskanten Spiels der deutschen Mannschaft hätte es noch schlimmer kommen können. Denzel Dumfries per Kopf (15.) und der Leipziger Xavi Simons frei vor Marc-André ter Stegen (21.) hätten die Führung noch ausbauen können. Nagelsmann und Co-Trainer Sandro Wagner grübelten auf der Bank nach Lösungen.

Noch vor einem Jahr – der damalige Bundestrainer Hansi Flick wurde nach dem schlimmen 1:4 gegen Japan freigestellt – wäre das DFB-Team wohl auseinandergefallen. Doch das Gebilde ist unter Nagelsmann nach der guten Heim-EM längst gewachsen – auch dank der beiden Zauberer Musiala und Wirtz, die beim großen Kräftemessen erneut die tragenden Säulen waren.

Premierentor von Undav

Ein bisschen halfen die Niederländer aber auch mit. Musiala fing einen schwachen Pass seines früheren Bayern-Kollegen Matthijs de Ligt ab. Über Kai Havertz und Deniz Undav gelangte der Ball zu Wirtz. Dessen Schuss konnte Verbruggen noch parieren, den Nachschuss von Undav aber nicht mehr.

Für den Stuttgarter, der den verletzten Niclas Füllkrug vertreten hatte, war es das erste Tor im vierten Länderspiel. Doch damit nicht genug. Nach einer Ballverlagerung von Andrich auf die linke Seite verteidigten die Gastgeber wieder nicht konsequent genug. David Raum grätschte den Ball in die Mitte zu Undav, der den freien Kimmich bediente. Es war für den Münchner das siebte Tor im 93. Länderspiel, aber das erste in seiner neuen Rolle als Kapitän.

Die Führung zur Pause war glücklich – und auch nur von kurzer Dauer. Nagelsmann brachte Waldemar Anton für Tah ins Spiel, Sicherheit kehrte aber nicht zurück. Vor allem Brobbey sorgte für große Probleme auf deutscher Seite. Der starke Ajax-Stürmer war es auch, der sich nach einem schnellen Ballgewinn gegen Schlotterbeck durchsetzte und für Torschütze Dumfries auflegte. Schon im Gegenzug hatte Havertz die große Chance zur erneuten Führung, doch wie schon gegen Ungarn ließ der Arsenal-Stürmer vor dem Tor den Killerinstinkt vermissen (52.). Dazu vergab Raum per Kopf eine weitere Großchance (71.).

Beide Teams schenkten sich nichts, auch körperlich ging es zur Sache. Immerhin ließ die Nagelsmann-Elf nicht mehr viel zu und verdiente sich mit großem Einsatz den Punkt.