Warum schwelgen wir so gern in Erinnerungen? Im Interview erklärt Kommunikationswissenschaftler Manuel Menke, was Nostalgie überhaupt ist, wie sie missbraucht wird – und wo dabei die Gefahr liegt.

Herr Menke, der Urlaub mit den Eltern, die Pommes im Freibad, die unbeschwerten Stunden unserer Jugend. Immer wieder blicken wir voll Wehmut in die Vergangenheit. Was ist Nostalgie überhaupt?
Aus psychologischer Perspektive ist Nostalgie eine Emotion, die im Zusammenhang mit dem Erinnern auftritt. Aus der Forschung wissen wir, dass sie oft als „bittersüß“ beschrieben wird. Das heißt, dass Leute sich zum einen positiv an Dinge erinnern, aber gleichzeitig auch die negative Dimension mitschwingt, dass diese Dinge in der Vergangenheit liegen und heute nicht mehr so existieren. Das ist der Kern von Nostalgie.

Ist das auch der Grund, warum wir häufig melancholisch zurück blicken? 
Man hat bei diesem Blick schnell das Gefühl, etwas aus der Vergangenheit verloren zu haben. Es ist etwas verschwunden, das einem viel bedeutet hat. Wenn man zum Beispiel im Urlaub Erfahrungen macht, fühlen die sich oft gar nicht so intensiv an, wie wenn man im Nachhinein daran denkt. Man hat die Tendenz, das Erlebte zu überhöhen und die negativen Dinge auszublenden. Deshalb haben wir meistens das Gefühl, etwas Schönes erlebt zu haben, wenn wir uns erinnern. 

Ist das etwas Schlechtes?
Nostalgie ist weder schlecht noch gut. Es ist ein Empfinden, das je nachdem wie es angewendet wird und sich ausdrückt, eher positive oder negative Effekte haben kann. STERN PAID 33_24 Life Magazine

Derzeit scheint Nostalgie eine größere Rolle zu spielen als noch vor einigen Jahren.
Meine Hypothese ist, dass Nostalgie momentan so boomt, weil sich Gesellschaften stark verändern und wir gleichzeitig so viele Konfliktherde auf der Welt haben. Das ist allerdings schwer mit Daten zu belegen, weil es dazu keine umfassenden Studien gibt. Es gab schon mal in den 1970ern die Hypothese, dass es einen Boom von Nostalgie gab, besonders in den USA. Grund waren vermutlich die großen gesellschaftlichen Wandel. Die Bürgerrechtsbewegung, der Stellenwert von Religion und allgemein die Rolle der Frau in der Familie haben sich drastisch geändert. Auf große Wandel reagieren dann viele mit Nostalgie. Für manche ist es eine Flucht vor der Gegenwart und für andere eher eine kurze Auszeit zum Durchatmen.

Nostalgie: „Die Frage ist, wie reflektiert gehen wir mit der Vergangenheit um?“

Das klingt sehr danach, dass wir einfach den „Kopf in den Sand der Nostalgie“,stecken sobald es kompliziert wird.
Die Frage ist, wie reflektiert geht man mit der Vergangenheit um? Die Literatur unterscheidet zwischen restaurativer und reflexiver Nostalgie. Bei restaurativer Nostalgie geht es um den Wunsch, die Vergangenheit wiederherzustellen und sie wieder zurückzuholen. Die reflexive Art wirft die Frage auf: Was kann ich aus dieser Vergangenheit für den Umgang mit Wandel lernen?

Es scheint, als erleben wir derzeit eine große Nostalgiewelle. Neue Musik nutzt typische Muster der 1980er- und 1990er-Jahre, ständig erscheinen aktuelle Produkte in „Retro-Edition“. In sozialen Netzwerken erreichen Bilder und Videos von vor 40 oder 50 Jahren Hunderttausende Nutzer. Warum lösen diese Posts so heftige Reaktionen aus?
Gemeinsame Erinnerungen stiften Gruppenidentitäten. Das funktioniert auf Social Media so gut, weil ich dann feststelle, dass es anderen ähnlich geht wie mir. Diese Feststellung kann sehr angenehm sein. Allerdings birgt sie auch die Gefahr, ausgenutzt zu werden.

Was meinen Sie damit?
Wenn Menschen so emotional mit etwas verbunden sind, heißt das auch, dass sie anfällig für bestimmte Marketingstrategien oder politische Botschaften sind. Das können schnell politische oder kommerzielle Dimensionen sein. 

Wie erkennt man einen solchen Versuch?
Man muss unterscheiden, ob die Dinge, die man findet, von Menschen selbst kommen, die diese Empfindungen haben und sich schlicht darüber austauschen wollen, oder ob diese Nostalgie strategisch eingesetzt wird, um etwas zu verkaufen. Nicht nur, um eine politische Message zu verbreiten, sondern auch um einfach Geld zu verdienen. 

Was heißt das für Nutzerinnen und Nutzer?
Man sollte sich immer die Frage stellen: Steckt eine Intention dahinter, wenn diese Posts geteilt werden? Soll jemand damit von einer politischen Meinung überzeugt werden? Versucht jemand, mich zu instrumentalisieren, wenn ich zur Verbreitung beitrage? Soll ich einen Link zu einem Online-Shop folgen? Kennen Sie diese Süßigkeiten aus den 90ern? 15:31

Aber sind nostalgische Gefühle nicht höchst individuell? Da wirkt es sehr unwahrscheinlich, dass eine große Gruppe von Menschen beeinflusst werden kann.
Es funktioniert auch auf einer gesamtgesellschaftlichen Ebene. Zum Beispiel wenn man sagt: „Ach, die 1970er waren ja so toll.“ Dann schaut man mal in die Geschichtsbücher und merkt: In den 1970ern gab es auch viele soziale und wirtschaftliche Probleme. Bestimmten Gruppen ging es teils deutlich schlechter im Vergleich zu heute. Das wird ausgenutzt, um zu polarisieren. Gerade im Bereich der Rechtevon Minderheiten. Da ist dann die Kernbotschaft: „Hey, erinnerst du dich an die Zeit, als wir nur auf dich geschaut haben, und es dir immer gut ging? Jetzt schauen alle auch auf andere Gruppen, denen wir versuchen, das Leben gut zu machen, aber eben auf deine Kosten.“ Das ist das politische Narrativ, das daraus oft gestrickt wird, um diese Gruppen gegeneinander auszuspielen.

„Gerade im populistischen Bereich wird versucht, Menschen zu erklären, dass es ihnen wahnsinnig schlecht geht“

Das klingt sehr nach der Binse „früher war alles besser“. 
Gerade im populistischen Bereich wird versucht, Menschen zu erklären, dass es ihnen gerade wahnsinnig schlecht geht und dass ihnen viel weggenommen wird. Auch wenn das für einige Menschen zutreffen kann, ist das nicht die Regel. Letztendlich geht es aber um das gesellschaftliche Versprechen des Aufstiegs und des guten Lebens für jeden. Wenn das enttäuscht wird, fragen wir uns mit einem Blick zurück: Was ist falsch gelaufen? Welcher Wandel ist dafür verantwortlich, dass es mir nicht mehr so gut geht, wie ich gehofft hatte? Da ist die Gefahr groß, dass ich einer anderen Gruppe vorwerfe, mir das, was mir mal Sicherheit gegeben hat, weggenommen zu haben. Das ist ein klassisches populistisches Narrativ. Im Parteipolitischen funktioniert das ähnlich. Politiker und Politikerinnen versprechen: Wir sind diejenigen, die das bewahren können, was euch gerade verloren geht.

Wann sind Gesellschaften besonders anfällig für diese instrumentalisierte Nostalgie?
Das hängt stark damit zusammen, wie konfliktreich eine Gesellschaft ist. Je mehr MenschenKonflikteauch in ihrem Alltag spüren, desto stärker ist das Gefühl, die Welt hat sich zum Schlechteren verändert. Das heißt nicht, dass die Vergangenheit tatsächlich weniger konfliktreich war. Wir haben die Gabe, die Vergangenheit zu verklären und dann einen unfairen Vergleich zu machen zwischen dem Heute und der Vergangenheit, an die wir uns durch die nostalgische rosarote Brille erinnern.