Die Ampel ist schwer angeschlagen in die Ost-Wahlen gewankt. Geht sie nach dem politischen Erdbeben in Sachsen und Thüringen nun in die Knie?
Berlin (dpa) – Es ist ein Debakel mit Ansage. Dass die Wahlen in Thüringen und Sachsen eine derbe Klatsche für die Ampel-Koalition in Berlin werden würden, war schon vorher ziemlich klar. Die Frage war nur: Wie schlimm wird es?
Die Antwort nach den sich abzeichnenden Ergebnissen lautet: Desaströs, aber es hätte auch noch schlimmer kommen können. Die FDP fliegt in Thüringen aus dem Landtag und ist damit in beiden Parlamenten nicht vertreten. Auch die Grünen – bisher Regierungspartei in beiden Ländern – scheitern in Thüringen an der 5-Prozent-Hürde und bangen in Sachsen um den Wiedereinzug in den Landtag. Der SPD bleibt immerhin die Schmach erspart, erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik nicht in einem Landesparlament vertreten zu sein. In beiden Ländern ist ihr Ergebnis aber einstellig.
Noch nie sind die Parteien, die die Bundesregierung stellen, bei Landtagswahlen gemeinsam auf so schlechte Ergebnisse gekommen. Dass das Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) in Thüringen aus dem Stand stärker als SPD, Grüne und FDP zusammen abschneidet und die AfD dort nun fast drei Mal so stark ist wie die Ampel, sagt eigentlich alles. Dass sich die Koalitionäre kurz vor den Wahlen zusammengerauft und sich in überraschend kurzer Zeit und ohne öffentlichen Streit auf Konsequenzen aus der Messerattacke in Solingen verständigt haben, hat ihnen nicht mehr geholfen.
Ampel-Besserung: „Jetzt muss es wirklich anfangen“
Aus der SPD-Zentrale in Berlin kommen am Wahlabend zunächst die üblichen Textbausteine zum Anteil der Berliner Ampel an der Wahlniederlage. Ja, der Dauerstreit in der Koalition mache die Menschen „müde“ und „mürbe“, sagt Parteichefin Saskia Esken. Ja, das müsse sich jetzt endlich ändern. Ja, das habe die Ampel sich schon oft geschworen. „Aber jetzt muss es wirklich anfangen.“ Esken macht bei diesem Satz nach jedem Wort eine Kunstpause, um ihm Nachdruck zu verleihen.
Ob die Ampel noch die Kraft dazu hat, wird man sehen. Eine erste Nagelprobe dürfte die Umsetzung der Beschlüsse zur Migrations- und Sicherheitspolitik sein, die die Bundesregierung am vergangenen Donnerstag vorgelegt hat. Die Union wird versuchen, die Regierung bei dem Thema weiter vor sich herzutreiben und von den linken Flügeln von Grünen und SPD könnte Widerstand kommen. Auch der Haushalt muss noch durch den Bundestag.
Wahl in Brandenburg für SPD wichtiger
Vor allem in den nächsten drei Wochen wird man sich aber wohl am Riemen reißen. Denn dann steht die nächste Wahl in Ostdeutschland an. Und die ist für die SPD noch wichtiger als die in Thüringen und Sachsen. Denn dort stellen die Sozialdemokraten seit 1990 durchgehend die Ministerpräsidenten. Sollte die Wiederwahl des seit elf Jahren regierenden Dietmar Woidke scheitern, könnte es mit der Disziplin in der SPD vorbei sein.
Dann könnte es auch für Scholz ungemütlich werden, der vor der Sommerpause vollmundig angekündigt hat, seine Partei in die nächste Bundestagswahl führen zu wollen. Alle Spekulationen über ein Joe-Biden-Szenario, nach dem Scholz zugunsten des deutlichen beliebteren Verteidigungsministers Boris Pistorius (SPD) einen Rückzieher machen könnte, werden von der Parteiführung bisher weggewischt. „Wir wollen und werden mit Olaf Scholz antreten bei der nächsten Bundestagswahl“, wiederholt SPD-Chef Lars Klingbeil gebetsmühlenartig.
Esken macht am Wahlabend aber deutlich, dass sie von Scholz erwartet, die SPD-Positionen in der Regierung deutlicher zu machen. „Er muss vor allem deutlich machen, diese Koalition ist eine SPD-geführte Regierung. Das muss man auch merken.“
Neuwahl des Bundestags bleibt unwahrscheinlich
Die Debatte über vorgezogene Neuwahlen wegen der schwächelnden Ampel könnte in den nächsten Tagen und Wochen auch wieder aufflammen. Gegen einen solchen Schritt spricht aber weiterhin, dass alle Ampel-Parteien dabei mit einem Absturz rechnen müssten. Derzeit liegen sie in den bundesweiten Umfragen zusammen zwischen 29 und 34 Prozent im Vergleich zu 52 Prozent bei der Wahl 2021.
Bei Spekulationen über Neuwahlen wurde in den vergangenen Monaten vor allem der FDP zugetraut, die Koalition platzen zu lassen. Doch die Liberalen dürften mit Blick auf ihre bundesweiten Umfragewerte von 4 bis 5 Prozent nun am wenigsten Interesse an einer vorgezogenen Bundestagswahl haben.
Nouripour sauer über „überflüssigen Streit“
Grünen-Chef Omid Nouripour hat die Ampel zwar zuletzt als „Übergangsregierung“ tituliert – dass er oder seine Partei dieser „Übergangsphase“ ein jähes Ende bereiten, ist aber nahezu undenkbar. Zu überzeugt sind die Grünen von ihrer als staatstragend empfundenen Rolle. In den Ländern, wo nun gewählt wird, seien sie die Einzigen, die sich klar abgegrenzt hätten vom BSW, das die Unterstützung für die Ukraine infrage stellt, betonen sie. Die Koalition verlassen zu einer Zeit, in der eine zweite Präsidentschaft Donald Trumps im Bereich des Möglichen scheint und die Ukraine weiter kämpft? Wohl kaum.
Nouripour macht am Wahlsonntag aber noch einmal deutlich, wie sauer er über das Erscheinungsbild der Ampel ist. „Dieser überflüssige Streit in dieser Koalition hat allen geschadet. Und das ist halt auch ein Stückchen die Rechnung, die wir jetzt sehen.“
Unionsstart in die heiße Phase zur Entscheidung der K-Frage
In der Union gilt der heutige Wahlsonntag als Einstieg in die Schlussphase zur Entscheidung über die K-Frage – die laut den Chefs von CDU und CSU, Friedrich Merz und Markus Söder, im Spätsommer fallen soll – wohl nach der Landtagswahl in Brandenburg am 22. September.
Merz werden in der Union allgemein die besten Chancen zugeschrieben. Trotzdem wird in der CDU befürchtet, der bayerische Ministerpräsident könnte darauf setzen, dass Merz wegen möglicher Turbulenzen in den kommenden Wochen ins Schlingern kommt. Als offenes Geheimnis gilt, dass sich Söder nach wie vor selbst für den besten Kanzlerkandidaten hält.
In der CDU wird mit schwierigen Sondierungen gerechnet – bis nach der Brandenburg-Wahl. Gut möglich, dass es trotz klarer Ansagen aus der CDU-Zentrale in Berlin den einen oder anderen gibt, der an der von Merz verbürgten „Brandmauer“ zur AfD kratzen möchte.
Schwierigkeiten für Merz könnten sich auch im Zusammenhang mit dem BSW zusammenbrauen, falls die CDU tatsächlich an der BSW bei einer Regierungsbildung nicht vorbeikommt. Merz hatte eine Kooperation zunächst ebenso strikt abgelehnt wie mit der AfD. Wagenknecht sei „in einigen Themen rechtsextrem, in anderen wiederum linksextrem“, sagte er nach der Europawahl im Juni. Erst nach Protest der Wahlkämpfer im Osten rückte Merz von diesem Diktum ab – und erklärte die Frage einer Zusammenarbeit zur Sache der Länder.
AfD sieht weiteres Etappenziel erreicht
Der AfD ist der doppelte Durchmarsch in beiden Bundesländern voraussichtlich zwar verwehrt geblieben. Die Parteivorsitzende Alice Weidel sprach in einer ersten Reaktion trotzdem von einem „historischen Erfolg“ und einem „Requiem auf diese Koalition“ in Berlin.
Dass sie in Thüringen erstmals seit der Parteigründung 2013 stärkste Kraft in einem Bundesland wurde, wertet die AfD nach ihren Erfolgen auf kommunaler Ebene als nächste wichtige Etappe auf dem angepeilten Weg zu mehr Einfluss in ganz Deutschland werten. Machtoptionen bestehen für die Bundestagswahl 2025 zwar nach jetzigem Stand nicht, da andere eine Zusammenarbeit mit der vom Verfassungsschutz als rechtsextremistischer Verdachtsfall eingestuften Partei ausschließen. Fest im Blick habe man aber das Wahljahr 2029, sagte Co-Parteichef Tino Chrupalla schon vor einiger Zeit. Das Kalkül: Sind die Unzufriedenheit in der Bevölkerung und gleichzeitig die Akzeptanz für die AfD bis dahin groß genug, könnte ihre Stunde auf Bundesebene schlagen.
BSW will in Bundespolitik mitmischen
Wagenknecht und ihre BSW wollen dagegen jetzt schon mitmischen – auch in der Bundespolitik. Sollte es zu Koalitionsverhandlungen kommen, will die neugegründete Partei auch Forderungen stellen, die den Bund betreffen. Die 55-Jährige hat als Voraussetzungen für eine Regierungsbeteiligung des BSW in Thüringen ein Ende der Waffenlieferungen an die Ukraine, mehr diplomatische Initiativen der Bundesregierung und eine Absage an die Stationierung von US-Raketen in Deutschland genannt.