Als Ursula ihren zweiten Mann kennenlernte, war der noch sehr jung. Nun findet sie sich in einer sehr unangenehmen Ehe-Situation wieder. Gibt es noch Hoffnung?

Liebe Frau Peirano,

zu meiner Person 59 Jahre alt, Unternehmerin, zwei Töchter und einen Ehemann. Zur Situation: Meinen Mann habe ich geheiratet, als ich schon Mutter war, es ist die zweite Ehe. Er war gerade 25 Jahre alt und hatte seine Ausbildung beendet.

Meine Mutter war alleinerziehend und ich musste früh die harten Seiten des Lebens kennenlernen und habe früh neben der Schule gearbeitet, um mir Dinge leisten zu können. Es ist mir nie leicht gefallen, aber da mußte ich durch und bin auch da durch gegangen. Es gab Situationen in meinem Leben, die so schlimm waren, dass ich dachte, ich überlebe es nicht. Aber ich habe alles immer überstanden, jedoch mit vielen Wunden im Herzen.

Ich habe zweimal alles verloren, wofür ich gearbeitet habe und bin sehr oft von Menschen hintergangen worden. Aber das hat mich nicht daran gehindert, neuen Mut zu fassen, an die Liebe und das Gute zu glauben und die Welt zu erkunden. Einen Großteil meiner Freizeit widme ich gemeinnützigen Projekten.  

Mein jetziger Ehemann hat sich mehr oder weniger freiwillig in viele dieser Vereine eingeklinkt. Er ist nie Initialzünder eines unserer Projekte gewesen und wollte nie wirklich Verantwortung übernehmen. Als ich ein Projekt im Ausland gemacht habe, hat er die Kinder versucht zu erziehen, aber mehr nach dem Motto „Lieber Papa, böse Mama“. Es gab nie einen wirklichen Austausch über alles, weil er Diskussionen hasst. Er will nie reden, hat sich nie darum geschert, was ich denke und fragt nie, wie es mir geht. Ich versuche, mich mit ihm auszutauschen, aber das artet in Tobsuchtsanfällen seinerseits aus.  Peirano November 4 20.00

Er ist ein sehr aggressiver Typ, der allen anderen vormacht, er sei der nette Junge. Jedesmal, wenn es ein Problem gibt, er Entscheidungen treffen soll oder ich eine Meinung diskutieren möchte, flippt er regelrecht aus.  

In dem Verein, in dem wir beide engagiert sind, macht er mich lächerlich. Er versucht mich dazu zu bewegen, auszusteigen (obwohl ich ihn in den Verein integriert habe). Er erklärt den anderen, ich sei wohl nicht ganz bei Sinnen und spricht mir meine Erfolge ab. Er wird immer unangenehmer. Mittlerweile geht das soweit, dass unsere gemeinsame Tochter und er sich zusammengerauft haben. Sie wohnt bei uns, zahlt keine Miete und lässt ihre Zimmer so verdrecken, dass die Maden Freude finden. Ich darf dazu nichts sagen, dann bin ich böse. Er steht immer auf ihrer Seite und ich werde beschimpft.  

Was habe ich falsch gemacht? Warum ist er so aggressiv? Ich wollte nur seine Liebe, habe ihn unterstützt, ihm ein Leben geboten und immer wieder zu verstehen gegeben, dass er mir lieb, wichtig und wertvoll ist.  

Mittlerweile reagiert mein Körper, ich hatte einen Schlaganfall, mein Nervensystem ist kaputt und ich schlafe keine Nacht seit ca . vier Jahren.

Ich wollte immer einen Mann, der mich hält, mir zur Seite steht und mich schätzt. Ich habe einen Terroristen bekommen, der mich den Haien zum Fraß vorwirft und mich lächerlich macht, vor versammelter Mannschaft.  

Was habe ich falsch gemacht und worin liegt das begründet?

Viele Grüße

Ursula G.

Liebe Ursula G.,

ich habe Sie beide als Paar nie zusammen erlebt und kann deshalb natürlich nur Vermutungen aufstellen, warum die Beziehung zwischen Ihnen beiden so toxisch geworden ist.

Es gibt dabei zwei wichtige Aspekte, die man reflektieren kann.

Die Auswahl des Partners. Wir alle haben eine bestimmte Persönlichkeit, die ab dem Eintritt ins Erwachsenenalter relativ stabil ist. Man sagt im Management oft: Personalauswahl ist wichtiger als Personalentwicklung. Das gleiche trifft auch auf Partnerschaften zu. Denn wir können Menschen in der Regel nicht ändern. Sehr oft wählen wir unbewusst einen Partner/eine Partnerin, die uns an bestimmte Beziehungskonstellationen und wichtige Menschen aus der Kindheit erinnert. Sprich: War mein Vater oft abwesend und sehr dominant, ziehen mich wahrscheinlich viel beschäftigte, dominante Männer an. 
Sie haben in Ihrer Kindheit gelernt, dass man sich sehr anstrengen muss, um eine Daseinsberechtigung zu haben. Ihre Mutter hat das selbst so erlebt, und da sie Ihnen kein bequemes Leben bieten konnte, haben Sie das Verhaltensmuster und die Glaubenssätze von ihr übernommen. Ihre allein erziehende Mutter hat Ihnen vorgelebt, dass die Aufgaben, die Verantwortung und die Belastungen nicht gerecht zwischen beiden Elternteilen verteilt sind, sondern dass einer (nämlich Ihre Mutter) alles alleine schultern muss, während der andere Elternteil nicht einmal in Ihrer Schilderung vorkommt.
Können Sie sich vorstellen, dass Sie dieses Muster unbewusst übernommen haben und sich einen jüngeren Partner gesucht haben, der wenig Verantwortung übernimmt? War es in Ihrer ersten Ehe ähnlich, d.h. hat schon Ihr erster Mann Sie mit den Pflichten alleine gelassen?Der zweite wichtige Aspekt ist die Dynamik zwischen zwei Partnern, d.h. wie diese aufeinander reagieren. Kommen zum Beispiel zwei Menschen zusammen, die gerne Verantwortung übernehmen, kann es zu Machtkämpfen kommen. Es kann aber auch sein, dass beide sich absprechen und Ihre Zuständigkeiten abklären (einer ist Gartenminister, der andere ist Minister für Haushalt. Einer plant den Sommerurlaub, der andere den Skiurlaub). Bei solchen Paaren ist oft alles sehr gut strukturiert und es gibt klare Linien. Wenn zwei Menschen ein Paar sind, die keine Verantwortung übernehmen, ist die Partnerschaft oft wie ein treibendes Ruderboot: Sie dreht sich im Kreis, hat keine Richtung, wenig Struktur. Es herrscht wahrscheinlich Unordnung, es wird wenig geplant, es gibt keine klare Linie bei der Kindererziehung, Werten, Tagesabläufen, Einrichtung etc.

Und wenn (wie in Ihrem Fall) zwei Menschen zusammen sind, von denen eine gerne Verantwortung übernimmt (und auch noch mehr, als sie müsste), und der andere das eher vermeidet, kommt es zu Konflikten. Insbesondere wenn die Frau diejenige ist, die die Entscheidungen trifft und der Mann eher passiv ist, führt das oft zu einem „Mutter-Sohn“-Szenario. Und in der Regel tut das beiden überhaupt nicht gut. Die Frau beklagt sich in ihrer Mutterrolle, dass ihr Mann sie mit allem alleine lässt, sie nicht versteht und sich sogar ihren Vorstellungen verweigert und sie bekämpft. Und der Mann leidet darunter, dass er nichts zu sagen hat, nicht gesehen wird, dauernd kritisiert wird und sich nicht vollwertig fühlt. Man kann auch böse sagen: Er fühlt sich kastriert.BIo Julia Peirano

Es hört sich für mich so an, als wenn Sie beide sich in einer solchen Verstrickung befinden. Ihr Mann hat das Gefühl von Ohnmacht neben Ihnen und wendet seine Aggressionen gegen Sie. Er macht Sie vor anderen schlecht, um sich aufzuwerten. Das ist ein unpartnerschaftliches Verhalten, aber es könnte sein, dass er es macht, weil er seine Rolle in der Beziehung als Problem erlebt und sich dagegen wehren möchte.

Hatten Sie beide früher eigentlich mal eine gute Basis, um über Probleme zu reden? Oder war es nie möglich, Wünsche oder konstruktive Kritik zu äußern? Wenn es früher mal möglich war, wäre es möglich, wieder daran anzuknüpfen, indem Sie Ihren Mann daran erinnern. Wenn Sie schon von Anfang an eher Machtkämpfe und Aggressionen statt Gesprächen gab, ist es vermutlich schwer, das nach so vielen Jahren zu verändern. 

Es wäre auf jeden Fall sinnvoll, dass sie beide eine Paartherapie machen und über diese Verstrickung sprechen. Leider ist das ja immer nur möglich, wenn beide Partner bereit dazu sind, und Ihr Mann macht nicht den Eindruck, als wenn er darüber sprechen möchte. Dann wäre die Alternative, dass Sie alleine eine Therapie/Beratung machen und Ihre Rolle in der Beziehung bzw. der Familie besprechen. Möglicherweise können Sie an Ihrem Verhalten etwas verändern, um aus der Mutterrolle heraus zu kommen. Manchmal sind das so Feinheiten wie den anderen nach seiner Meinung zu fragen, richtig zuzuhören, ohne zu bewerten und ohne es besser zu wissen. Und wenn sich einer verändert, verändert sich natürlich auch die Dynamik in der Partnerschaft. 

Wenn allerdings zu viele Verletzungen passiert sind – man spricht auch von apokalyptischen Reitern wie Kritik, Verachtung, Rechtfertigung und Mauern – dann ist es oft zu spät für eine Veränderung. All das können Sie in einer Einzelberatung bzw. Therapie herausarbeiten. Als Einstieg in das Thema Beziehungspersönlichkeit kann ich das von mir und Sandra Konrad verfasste Buch empfehlen: „Der geheime Code der Liebe. Entdecken Sie Ihr Beziehung-Ich und finden Sie den richtigen Partner. (Julia Peirano und Sandra Konrad)

Wichtig wäre aus meiner Sicht auch, dass Sie lernen, Grenzen zu setzen und zu sagen: Bis hierhin und nicht weiter. Das Muster der Selbstaufopferung scheint auch ein Ballast aus Ihrer Kindheit zu sein.

Ich hoffe, dass Sie einen konstruktiven Weg für sich finden!

Herzliche Grüße

Julia Peirano

Dieser Artikel erschien erstmals im November 2022

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