Im kommenden Jahr soll der Bundestag nach neuem Wahlrecht gewählt werden. Gegen die Reform gehen unter anderem Union und Linke am obersten deutschen Gericht vor. Sie haben viel zu verlieren.
Seit etwas mehr als einem Jahr ist die von der Ampel-Koalition eingeführte Reform des Bundestagswahlrechts in Kraft. Bei der Bundestagswahl im kommenden Jahr soll sie erstmals angewendet werden. Doch zunächst steht sie in Karlsruhe auf dem Prüfstand. Unter anderem die Union, Linke und die bayerische Staatsregierung gehen am Bundesverfassungsgericht gegen die Neuregelung vor.
Heute wollen Deutschlands oberste Richterinnen und Richter ihr Urteil verkünden. Was die Reform vorsieht? Und was für die Kläger auf dem Spiel steht? Die wichtigsten Fragen und Antworten:
Warum wurde das Wahlrecht verändert?
Mit der Neuregelung des Wahlrechts soll die Größe des Bundestags stark reduziert werden. Bereits 2020 verabschiedete die damalige große Koalition aus CDU/CSU und SPD aus diesem Grund eine Wahlrechtsreform – die aber nicht bewirkte, was sie hätte bewirken sollen. Von vornherein von ihren Kritikern als Reförmchen verspottet, schaffte sie es lediglich, den Anstieg der Abgeordnetenzahl zu bremsen. Der Bundestag wuchs bei der Wahl 2021 von 709 auf 736 Abgeordnete – und ist damit weiterhin das größte frei gewählte Parlament weltweit.
Wie hat die neue Reform das Wahlrecht geändert?
Das 2023 von SPD, Grünen und FDP beschlossene neue Wahlrecht deckelt die Sitzzahl bei 630 Parlamentariern. Um das zu erreichen, sind künftig keine Überhang- und Ausgleichsmandate mehr vorgesehen. Überhangmandate fielen bislang an, wenn eine Partei über die Erststimmen mehr Direktmandate gewann, als ihr nach dem Zweitstimmenergebnis Sitze zustanden. Diese Mandate durfte sie dann behalten, die anderen Parteien erhielten dafür Ausgleichsmandate.
Auch die Grundmandatsklausel soll wegfallen. Nach ihr zogen Parteien auch dann in der Stärke ihres Zweitstimmenergebnisses in den Bundestag ein, wenn sie unter der Fünf-Prozent-Hürde lagen, aber mindestens drei Direktmandate gewannen.
Wer wehrt sich gegen die Reform – und warum?
Gegen das Gesetz gehen 195 Mitglieder der Unionsfraktion im Bundestag, die bayerische Staatsregierung, die Linke-Bundestagsfraktion sowie die Parteien CSU und Linke vor. Eine Verfassungsbeschwerde haben auch mehr als 4000 Privatpersonen eingereicht.
Nach Angaben des Bundesverfassungsgerichts sehen sich die Antragsteller und Beschwerdeführer insbesondere in zwei Grundrechten verletzt: bei der Wahlrechtsgleichheit nach Artikel 38 Grundgesetz und beim Recht auf Chancengleichheit der Parteien nach Artikel 21 Grundgesetz. Vor allem für CSU und die Linke steht viel auf dem Spiel.
Worum geht es für CDU und CSU?
Für die Zahl ihrer Sitze im Parlament ist künftig allein das Zweitstimmenergebnis einer Partei entscheidend – auch dann, wenn sie mehr Direktmandate geholt hat. Dann gehen die Wahlkreisgewinner mit dem schlechtesten Erststimmenergebnis leer aus. Das träfe vor allem die Unionsparteien.
Bei der Bundestagswahl 2021 gewann die CSU 45 Direktmandate. Elf davon waren Überhangmandate, die sie nach dem neuen Wahlrecht nicht mehr bekäme. Weitere zwölf Überhangmandate holte die CDU in Baden-Württemberg. Zusammen waren dies 23 von insgesamt 34 Überhangmandaten, die wiederum 104 Ausgleichsmandate zur Folge hatten.
Der Wegfall der Grundmandatsklausel könnte für die CSU zudem besonders bitter werden. Würde sie bei der nächsten Wahl bundesweit hochgerechnet unter die Fünf-Prozent-Marke rutschen, flöge sie nach dem neuen Wahlrecht aus dem Bundestag – auch wenn sie wieder die allermeisten Wahlkreise in Bayern direkt gewinnen sollte. Bei der Wahl 2021 war die CSU bundesweit auf 5,2 Prozent der Zweitstimmen gekommen.
Warum ist das Urteil für die Linke so wichtig?
Die Grundmandatsklausel, die nun wegfallen soll, hat die Linke schon zweimal gerettet. Bei der Bundestagswahl 2021 scheiterte die Partei an der Fünf-Prozent-Hürde und kam nur in Fraktionsstärke ins Parlament, weil sie drei Direktmandate gewann. Ähnlich lief es 1994 schon einmal für die Vorgängerpartei PDS. Nach der Abspaltung des Bündnisses Sahra Wagenknecht (BSW) steckt die Linke wieder tief in der Krise. Bei der Europawahl Anfang Juni erzielte sie nur noch 2,7 Prozent.
Das heißt: Die Drei-Mandats-Klausel wäre ein Strohhalm für die Partei, falls sie doch erhalten bliebe. Vom Karlsruher Urteil hängt auch ab, ob der langjährige Abgeordnete Gregor Gysi 2025 noch einmal kandidiert, um sein Berliner Direktmandat zu verteidigen. Zunächst vertritt der 76-jährige Anwalt seine Partei vor dem Verfassungsgericht.
Hatte das Gericht nicht erst zum Wahlrecht geurteilt?
Ja. Das war Ende November 2023 – bezog sich aber noch auf die Vorgängerreform des Wahlrechts. Diese winkte der Zweite Senat zwar mit Blick auf die Nachholwahl in Berlin durch. Die Vorsitzende Doris König und zwei Richter monierten aber die schwere Verständlichkeit der Regeln. In einem sogenannten Sondervotum hielten sie fest, den Wahlberechtigten werde eine Wahrnehmung ihres fundamentalen Rechts auf demokratische Selbstbestimmung „im Blindflug“ zugemutet.