Hitze schlägt buchstäblich aufs Gemüt – Forscherinnen und Forscher haben den Zusammenhang zwischen Temperatur und Stimmung in zahlreichen Studien untersucht.

Der Zug hält in Lübeck – und alle wollen mit ihren Badetaschen in den nächsten überfüllten RE, um an einem der letzten Spätsommertage mit um die 30 Grad Celsius von Hamburg aus ans Meer zu fahren. Doch ein Streit zwischen zwei Frauen unterbricht das vorfreudige Treiben. „Schubs mich nicht“, ruft eine Dame mit Brille im gemusterten Shirt einer jungen Frau mit Schlaghose und 90er-Jahre-Sonnenbrille zu, die eilig vorbeihuscht.

Und ehe sie sich versieht, bekommt die junge Frau eine schallende Backpfeife ins Gesicht. Der Rest der Fahrgäste ist konsterniert. Ein Mann der DB-Sicherheit schaut nach dem Rechten, und die Frauen trennen sich fluchend ohne weitere Gewaltausbrüche. Und ich bleibe auf dem Weg an die Lübecker Bucht mit der Frage zurück, ob die Hitze den Menschen nicht bloß sprichwörtlich zu Kopf steigt. 

Schnell wird klar, das Phänomen hat einen Namen: „Long-Hot-Summer-Effekt“. Er beschreibt die Tatsache, dass sich Menschen bei hohen Temperaturen aggressiver verhalten und leichter reizbar sind. Die Wissenschaftler Paul A. Bell und Robert A. Baron haben das Phänomen Hitze und Aggression bereits in den 1970er Jahren in einem Experiment untersucht. Sie teilten 64 männliche Studierende in zwei Gruppen ein. Die eine Gruppe durfte die andere kritisieren. Die andere durfte sie dafür mit Elektroschocks bestrafen. Und: Je heißer es im Versuchsraum war, desto häufiger versetzten die Studenten ihren Kritikern Elektroschocks.

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Hitze und Aggressionen

Der Einfluss von Hitze auf das Verhalten ist breit gefächert: Eine Analyse von Temperaturen und Strafen im Profi-Football (National Football League in den USA) zeigte: Je heißer es war, desto mehr Spieler begingen Regelverstöße. Vor allem die Heimmannschaft neigte zu aggressivem Verhalten. Die Forschenden gehen deswegen davon aus, dass neben der Hitze auch die anwesenden Fans eine Rolle spielen könnten. Auch im Straßenverkehr scheint die Hitze einen Effekt auf die Fahrer:innen zu haben: In den 1980er Jahren haben Forschende ein Experiment durchgeführt. Forschungsmitarbeitende haben die grüne Ampel „übersehen“. An heißen Tagen war dadurch der Unmut bei den wartenden Autofahrer:innen besonders groß: Es endete in besonders ausgiebigem Hupen. Wer keine Klimaanlage im Auto hatte, hupte am häufigsten.

Neben diesen eher harmlosen Folgen scheint Hitze aber auch drastischere Auswirkungen zu haben: Eine Längsschnittstudie aus den USA über einen Zeitraum von 45 Jahren kam zu dem Ergebnis, dass gewalttätige Übergriffe in warmen Jahren und Jahreszeiten zunehmen. Auf der anderen Seite kamen Forschende in einer Studie zu dem Ergebnis, dass Menschen bei hohen Temperaturen weniger hilfsbereit sind. Der US-Wissenschaftler Craig Anderson hat bereits vor mehr als 20 Jahren in einer Studie gezeigt, dass während Hitzewellen mehr Gewalt- und Sexualdelikte begangen werden. Eine neuere Studie aus dem Jahr 2021 hat gar ergeben, dass an sehr heißen Tagen die Gewalt unter Häftlingen in Gefängnissen um 18 Prozent zunimmt.

Allerdings: Die Ergebnisse solcher Experimente und Studien können aufgrund ihres Designs immer nur als Hinweis auf einen Zusammenhang gewertet werden. Sie können also nicht beweisen, dass die erhöhte Aggressivität bei Hitze tatsächlich darauf zurückzuführen ist. Die Forscherinnen und Forscher können nicht ausschließen, dass auch andere Faktoren, wie zum Beispiel mehr Menschen, die sich im Freien aufhalten, oder mehr Alkoholkonsum, eine Rolle spielen.

Wohlfühltemperatur für Mitteleuropäer:innen: 22 bis 25 Grad Celsius

Fest steht: Hitze hat direkte Auswirkungen auf unseren Körper. Neben der offensichtlichen Tatsache, dass der Körper bei Hitze die Schweißproduktion ankurbelt, damit die Körpertemperatur nicht zu hoch wird, erweitern sich auch die Blutgefäße. Dadurch sinkt der Blutdruck, erklärte Florian Heindl, Chefarzt der Notaufnahme in den Helios-Kliniken München West und München Perlach. Das Herz reagiert darauf, indem es seine Pumpleistung erhöht. Hitze kann also als Stressor auf uns wirken.

Für Mitteleuropäer:innen liege die Wohlfühltemperatur bei etwa 22 bis 25 Grad Celsius, sagte Professor Hanns-Christian Gunga gegenüber dem „Deutschlandfunk Nova“. Er hat an der Berliner Charité das Zentrum für Weltraummedizin und Extreme Umwelten aufgebaut. Klettert das Thermometer auf 30 Grad und mehr, sei dies für Mitteleruopäer:innen zu viel. Eine mögliche Erklärung für das aggressive Verhalten bei Hitze liefert das Hormon Vasopressin, das den Wasserhaushalt regelt und bei hohen Temperaturen vermehrt vom Körper ausgeschüttet wird. Denn: Der Körper versucht, möglichst viel Flüssigkeit zu speichern und schüttet deshalb vermehrt das Hormon aus. Das hat aber nicht nur Auswirkungen auf den Wasserhaushalt, das Hormon erhöht auch unsere Aggressionsbereitschaft.

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Hitze kann dazu führen, dass wir uns unwohl fühlen

Warum uns das warme Wetter so verrückt macht, könnte auch eine ganz banale Erklärung haben: Wir reagieren schnell gereizt, wenn wir uns unwohl fühlen. Auch Hitze kann dazu führen, dass wir uns unwohl, gestresst und gereizt fühlen. Unter anderem durch: verstärktes Schwitzen, schlechten Schlaf, Müdigkeit und verminderte Auffassungsgabe.

Der Umweltforscher Solomon Hsiang vermutet, dass Menschen bei belastender Witterung dazu neigen, uneindeutige Situationen eher falsch zu verstehen und es in der Folge zu mehr Missverständnissen und Konflikten kommen kann.

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Hohe Temperaturen können sich negativ auf die psychische Verfassung auswirken

Neben Aggressionen kann Hitze auch zu mehr Unruhe und Angstzuständen führen. „Während einer Hitzewelle kommt es vor allem bei älteren und geschwächten Menschen, aber auch bei jüngeren Personen, die eine mangelnde Fitness haben, zu einer deutlichen Zunahme an Stress, Ängsten und Depressionen. Die Aussicht, dieser Hitze nicht entfliehen zu können, führt zu seelischen Problemen, die nicht unterschätzt werden dürfen“, erklärt Hans-Peter Hutter, Umweltmediziner von der MedUni Wien in einer Mitteilung. Dies könne unter anderem zu Panikattacken führen.

Eine Studie aus den USA und Mexiko kommt sogar zu dem Ergebnis, dass das Suizidrisiko an heißen Tagen erhöht ist.

Suizid-Disclaimer