Auf dem Bau, im LKW oder Fleischbetrieb: Viele Jobs in Deutschland machen nur noch Migranten – oft werden sie dabei ausgebeutet. Wie ließe sich ihre Situation verbessern?

Sie haben für Ihr Buch „Ganz unten im System“ mit rund 70 Menschen gesprochen, die als Ausländer in Deutschland arbeiten. Gibt es eine Geschichte, die Ihnen besonders in Erinnerung geblieben ist?

Was mich am meisten bewegt hat, war die Geschichte von einem 25-jährigen Rumänen, den ich im Umfeld eines Schlachthofes getroffen habe. Er war mit seinem 18-jährigen Cousin gekommen. Man hatte die beiden mit falschen Versprechungen nach Deutschland gelockt. In einer Annonce hieß es, sie würden in einer Salamifabrik arbeiten, acht Stunden am Tag und mit einer schönen Wohnung. Dann stiegen sie aus und es hieß erstmal: Ihr arbeitet im Schlachthof. Sie haben täglich zehn Stunden gearbeitet und in der Wohnung waren Wasserflecken, auf denen später Schimmel gewachsen ist. 

Sascha Lübbe

Haben Sie solche Geschichten häufiger gehört?
Ja. Was mich aber speziell hier so mitgenommen hat, war, dass der Mann einen einjährigen Sohn hatte, den er nur fünf Monate gesehen hatte seit der Geburt. Ein halbes Jahr nach unserem ersten Treffen erzählte er, dass die Beziehung zur Mutter des Kindes zerbrochen war und er vermutlich das Sorgerecht verlieren wird. Und das alles für einen so schrecklichen Job. Aber tatsächlich ist auch das nicht selten bei Arbeitsmigranten im Niedriglohnsektor. Viele gehen nach Deutschland, um den Kindern ein besseres Leben zu ermöglichen, und dann zerbricht daran die Familie. 

Was weiß man sonst über den typischen Arbeitsmigranten in Deutschland?
In dem schlecht bezahlten Bereich, den ich mir angesehen habe, gibt es viele Männer, die auf dem Bau und im Transportwesen arbeiten. In die Fleischbranche kommen auch viele Frauen und dann gibt es noch die häusliche Pflege, auch das sind vor allem Frauen. Die meisten Menschen stammen aus Osteuropa, für sie war die demokratische Wende 1989 ein bedeutender Einschnitt. Was ich oft gehört habe, waren Geschichten, dass die Eltern arbeitslos wurden, die Jobs in der Gegend wegbrachen und nach und nach alle Nachbarn und Freunde nach Westeuropa gingen. Viele der Menschen, die ich getroffen habe, waren zwischen 35 und 50, hatten oftmals Kinder zu Hause. 

Kommen all diese Menschen auf Zeit, um hier zu arbeiten und dann wieder zurückzuziehen?
Das variiert von Branche zu Branche. Erntehelfer zum Beispiel kommen jedes Jahr für ein paar Wochen oder Monate, andere bleiben einige Jahre und ziehen dann zurück. Aber sie alle haben erzählt, dass sie irgendwann zurückwollen. Ich habe niemanden getroffen, der gerne hier in Deutschland ist und hier auch bleiben will. Sie waren alle nur hier, weil sie in der Heimat keine Zukunft für sich gesehen haben – eine absolute Notsituation.

Die Familie nachzuholen ist also keine Option?
Nein, meistens wollen die Menschen ihren Kindern ermöglichen, dass sie in der Heimat etwas aus sich machen. Ein Maurer hat mir in Frankfurt gesagt: Meine Tochter soll es mal besser haben als ich, sie soll in Rumänien arbeiten, nicht in Deutschland.STERN PAID Protokolle Gastarbeiter 12.10

Sie haben schon gesagt, dass die zwei rumänischen Männer mit falschen Versprechen gelockt wurden. Wissen die Leute normalerweise, was sie in Deutschland erwartet?
Ich habe schon oft gehört, dass Leute hierhergelockt wurden. Da sind die zwei rumänischen Männer keine Ausnahme. Man könnte ja denken, dass man sich in den Herkunftsländern gegenseitig warnt, aber oft erzählen die Leute nicht offen, wie schlecht die Arbeitsbedingungen sind, wie die Wohnung aussieht. Sie wollen die Familie nicht verunsichern, aber auch nicht das Bild erschüttern, dass derjenige, der in Deutschland arbeitet, es geschafft hat.

Wo stände die deutsche Wirtschaft ohne diese Hilfsarbeiter aus dem Ausland?
Im Niedriglohnsektor sind 30 Prozent der Menschen inzwischen Ausländer. Hier gibt es vor allem Hilfsjobs, für die man keine Ausbildung braucht, da findet man keine Deutschen mehr. Es finden sich keine Einheimischen, die diese Arbeit machen wollen. Ohne Arbeitsmigranten würde dieses System kollabieren. 

In den vergangenen Jahren wurde viel über Fachkräfteeinwanderung gesprochen. Es heißt dann immer, auch von Unternehmen, dass es so schwer sei, Leute im Ausland zu finden und sie dann auch durch die ganze Bürokratie nach Deutschland zu holen. Wieso ist das in den von Ihnen beschriebenen Branchen so viel leichter?
Zum einen kommt ein Großteil der Leute aus Osteuropa, also aus der EU. Das heißt, die Leute können problemlos nach Deutschland kommen, um zu arbeiten. Der andere Aspekt ist die Arbeit, um die es geht. Das sind oft Tätigkeiten, für die man keine Ausbildung braucht. Schweine zerlegen, Gebäude reinigen oder Pakete herumfahren können auch Ungelernte. Es müssen also keine Dokumente und Zeugnisse in Deutschland anerkannt werden. Das ist bei Fachkräften oft ein Problem. 

„Ganz unten im System“, Hirzel-Verlag, 208 Seiten, 22 Euro

Eigentlich ist Deutschland ja bekannt für hohe Arbeits- und Sozialstandards. Können Sie erklären, warum diese Standards in dem Sektor, in dem viele Migranten arbeiten, nicht eingehalten werden? Wieso lässt sich das Problem nicht besser bekämpfen?
Um das zu verstehen, muss man sich das System dahinter ansehen: Man kann sich das wie eine Pyramide vorstellen. Das sind oben die großen Unternehmen. In der Mitte dann kleinere, teilweise dubiose, teilweise auch offen kriminelle Firmen. Das sind die sogenannten Subunternehmen. Und ganz unten sind dann die Arbeiter. Und jetzt läuft es zum Beispiel bei einem Wohnungsbauprojekt so, dass sich die großen Unternehmen, also die Generalunternehmer, bewerben bei einer Ausschreibung und dafür gebucht werden. Die Unternehmen behalten dann einen Teil der Summe ein und lagern die Arbeit an Subunternehmen aus. Diese Subunternehmen behalten auch einen Teil des Geldes und lagern an weitere Subunternehmen aus. Beim Wohnungsbau ist man beim vierten, fünften Glied der Kette, bis man bei dem Unternehmen ankommt, was die Arbeit tatsächlich ausführt. Da ist von dem ursprünglichen Geld einfach schon so ein ganzer Haufen weg, sodass es für die Firmenchefs finanziell eng wird, wenn sie legal bauen wollen. Deswegen bezahlen sie ihre Leute häufig schwarz, lassen sie unbezahlte Überstunden machen, Urlaubs- und Krankheitstage gibt es nicht. Die Leute werden mitunter regelrecht ausgebeutet.

Abschiebung Azubi Lokman Eldemir 12.20

Das erklärt vielleicht die Motivation der Unternehmen, aber nicht, warum sie nicht besser kontrolliert werden.
Ein stückweit schon. Diese Strukturen sind sehr kleinteilig und unübersichtlich. So kommen Behörden kaum dahinter und Gewerkschaften können sich nicht organisieren. Hinzu kommt: Es wird nicht genügend kontrolliert. Den verantwortlichen Stellen fehlt dafür das Personal.

Die großen Unternehmen, die oben an der Pyramide stehen, sind aber ja bekannt, sie hängen an jedem Bauzaun. Wieso werden die nicht in Verantwortung genommen?
Offiziell haften sie zwar dafür, dass die Sozialabgaben gezahlt werden und dass die Leute den Mindestlohn erhalten. Aber auch da gibt es Tricks, es zu umgehen. Zum Beispiel bereiten die Subunternehmen dann ein Dokument vor, auf dem steht: Wir zahlen den Mindestlohn. Die ausländischen Arbeiter sollen das unterschreiben, verstehen im Zweifel aber gar nicht, was da steht und haben Angst, den Job zu verlieren. Dann geben die Subunternehmen das Dokument an die großen Unternehmen und die können sagen: Ja, alles super, ich habe es ja schwarz auf weiß. Es ist für die großen Unternehmen tatsächlich schwer zu kontrollieren, was die Subunternehmen machen, aber im Großen und Ganzen müssten auch sie wissen, dass es in dem Bereich strukturell zu Verstößen kommt.

In Ihrem Buch beschreiben Sie neben der Baubranche auch die Ausbeutung in der Transport- und der Fleischbranche. Wieso haben Sie sich für diese Wirtschaftszweige entschieden?
Mich hat dieses Pyramiden-System interessiert, das ich gerade beschrieben habe, das findet man in allen drei Branchen. Außerdem arbeiten überall überwiegend Migranten. Die Fleischbranche hat mich interessiert, weil große Unternehmen dort seit 2021 in ihrem Kerngeschäft Arbeiten nicht mehr an Subunternehmen auslagern dürfen. In der Corona-Zeit wurde ja sehr viel über die Lebens- und Arbeitsbedingungen der Arbeiter dort berichtet und diskutiert. Und auch in der Transportbranche gibt es einen interessanten Wandel: Der Anteil osteuropäischer, vor allem polnischer Speditionen auf dem Markt wächst. Nur finden die auch in Polen kaum noch Fahrer – die Arbeiter kommen deshalb vermehrt aus Zentralasien. Das konnte man vergangenes Jahr gut sehen. Da gab es zwei große Streiks, bei denen Fahrer eines polnischen Spediteurs über Wochen die Arbeit niedergelegt haben. Die meisten kamen aus Usbekistan oder Georgien.

Wieso kommt es nicht häufiger zu solchen Streiks unter den ausländischen Arbeitern?
Dass es diese Streiks überhaupt gegeben hat, ist eigentlich ziemlich unglaublich. Gerade LKW-Fahrer sind den ganzen Tag allein unterwegs, die wohnen nicht zusammen im Wohnheim oder stehen nebeneinander am Band. Dass sie sich so organisiert haben, ist also echt außergewöhnlich. Grundsätzlich gibt es immer mal wieder Streiks, zum Beispiel haben 2014 beim Bau eines Shoppingcenters in Berlin rumänische Arbeiter gestreikt. Aber natürlich gibt es bei diesen krassen Abhängigkeitsverhältnissen auch große Angst aufzubegehren. An der Arbeit hängen ja oft auch die Wohnung oder, bei Menschen von außerhalb der EU, sogar der Aufenthaltsstatus. Die Menschen haben keine Kontakte, sprechen kein Deutsch. Es gab mal einen Fall, da hat eine Gewerkschaft philippinische LKW-Fahrer an einer Raststätte aufgelesen. Die hatten wohl kaum noch was zu trinken, haben über einen langen Zeitraum kein Geld bekommen. Sie haben dann ihren Arbeitgeber verklagt. Und was war das Resultat? Sie haben Recht bekommen, aber sofort ihren Job verloren und mussten Europa verlassen. 

Sie haben schon die Neuregelungen in der Fleischindustrie angesprochen, es gibt seit fast zehn Jahren den Mindestlohn. Kann man sagen: Die Situation hat sich verbessert?
Ja, grundsätzlich ist es besser geworden. Die Einführung des gesetzlichen Mindestlohns war ein riesiger Einschnitt. Davor war es tatsächlich so, dass die Migranten teilweise für einen Stundenlohn von zwei bis vier Euro gearbeitet haben, zum Beispiel in der Fleischindustrie. Das Problem ist nur, dass es weiterhin diese Schattenwelt gibt, wahnsinnig schwer zu kontrollieren, und dadurch kommt es weiterhin zu Ausbeutung.

Früher haben in den Jobs ja auch Deutsche gearbeitet, was machen die heute?
Viele von ihnen haben jetzt besser bezahlte Jobs mit mehr Verantwortung. Für die ausbeuterischen Jobs sind nicht mehr genug junge Menschen nachgekommen.  Ohne Ausländer würde in diesen Bereichen nichts mehr gehen.

Wie könnte man die Situation verbessern?
Naja, der Grundstandard sollte erstmal sein, dass man die Leute so behandelt, wie man Einheimische auch behandeln würde. Es wird ausgenutzt, dass diese Menschen keine Kontakte haben, die Sprache nicht sprechen. Da werden schonmal sieben Leute in einer Zweizimmerwohnung untergebracht und die müssen jeweils 350 Euro zahlen. Das ist Wucher und illegal. Deutsche könnten sich wehren, mit denen kann man das nicht machen.

Aber wie kommt man dagegen an?
Man muss den Menschen zeigen, was ihnen zusteht. Zum einen könnten dabei Beratungsstellen im Ausland helfen, zum anderen sogenannte aufsuchende Sozialarbeit, also Menschen, die in die Unterkünfte gehen. STERN PAID 41_23 15 Fragen 8-11 UHR       15.00

Das würde doch nur sehr individuell helfen. Kann man auch strukturell etwas gegen das System tun?
Bei öffentlichen Ausschreibungen des Bundes sollten Unternehmen, die Tariflohn zahlen, den Zuschlag kriegen. Das würde vor allem in der Baubranche helfen. Ein entsprechendes Gesetz ist geplant. Außerdem wäre ein Verbandsklagerecht im Arbeitsrecht sinnvoll. Da hätten dann zum Beispiel die Gewerkschaften die Möglichkeit, Arbeitgeber von sich aus zu verklagen, wenn sie wissen, dass es Verstöße gibt. Die Geschädigten könnten anonym bleiben. Aber es geht auch um eine Veränderung im Kopf bei vielen Deutschen.

Was meinen Sie?
Es fehlt der gesellschaftliche Druck. Das liegt nicht daran, dass der Großteil der Menschen in diesem Land die Situation gut findet, sondern sie denken nicht darüber nach, wie die Menschen arbeiten und leben, die ihre Büros putzen, ihre Wohnungen bauen, ihre Pakete bringen. Ich war auch in der Region Deutschlands unterwegs, wo die meisten Tiere geschlachtet werden, sie erstreckt sich über Nordrhein-Westfalen und Niedersachsen. Dort wohnen die Arbeiter oft nicht am Rande der Stadt, sondern in ganz normalen Wohnvierteln. Man erkennt ihre Häuser nur daran, dass da ganz viele Fahrräder davor stehen und weiße Zettel mit rumänischen, polnischen und bulgarischen Namen hängen. Ich habe dort mit den Nachbarn, also den Deutschen, gesprochen und war erschrocken, wie herablassend die waren. Da hieß es, das ist so dreckig bei denen, die sprechen kein Deutsch und überhaupt, die sind ja nur zum Arbeiten hier. Diese Haltung „Die sind ja nur zum Arbeiten hier, das können die schon ab“, ist gefährlich. Diese Menschen leben hier, übernehmen Arbeiten, für die sich keine Einheimischen mehr finden. Es ist das Mindeste, sie anständig zu behandeln.

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